Welche
Exit-Strategie könnte idealerweise eingeschlagen werden?
Dr.
Sprenger hat mir eine kurze Antwort auf meine Frage gegeben. Er sagte Herdenimmunität
und Impfung. Und er fügte hinzu „Simulationen sind eben Simulationen!“,
womit er sicher nichts Falsches behauptet. Aber sehen wir näher hin. Ein
Kollege aus Deutschland warb gestern vor TV-Kameras für Vertrauen in die
Wissenschaft. Sie werde bestimmt bis Jahresfrist einen geeigneten
Impfstoff gefunden haben. Da müssten wir noch ein Jahr warten. Was soll man
in der Zwischenzeit tun? Dr. Sprenger meint, die Herdenimmunität voran
zu bringen. Hat er sich überlegt, wie lange das brauchen
würde? Ich mache mit Ihnen gemeinsam eine einfache Überschlagsrechnung
(bitte nehmen sie einen Taschenrechner zur Hand, um mich zu
berichtigen): Der Engpass sind dabei die vorhandenen Intensivbettenstationen
incl. qualifiziertem Personal, Technik und Schutzkleidung. In den letzten zwei
Monaten haben wir die Herdenimmunität von rund 16.000 Personen geschafft, wobei
die Intensivbettenauslastung von 21 Prozent auf nunmehr 12 Prozent gesunken ist
(dashboard von heute, BMSGPK). Nehmen wir an, wir
kurbeln die Durchseuchung an, indem wir die Maßnahmen lockern, die bisher das
Virus eingedämmt haben, aber nur soweit, dass wir die Kapazität von 100 Prozent
Intensivbettenauslastung erreichen. Das ist natürlich selbst
schon ein Balanceakt, da die Effekte einer Öffnung mit zeitlicher Verzögerung
eintreten und man sich daher teilweise im Blindflug befindet. Aber angenommen,
es geht. Dann könnten wir mit einem Faktor von 8,33 = 100/12 die Durchseuchung verstärken,
also in zwei Monaten 133.280 (= 16.000 x 8,33) Personen immunisieren, wovon
allerdings 0,0025 x 16.000 x 8,33 = 333 Personen sterben werden. Um eine
Durchseuchung von, sagen wir vorsichtig, 40 Prozent der Bevölkerung zu
erreichen (das sind 8.900.000 x 0,4 = 3.560.000 Personen), benötigen wir also
26 Durchseuchungsvorgänge von der Dauer von je 2 Monaten. Das wären 52 Monate
oder 4,33 Jahre und ca. 8.658 zusätzliche Tote. Das wäre ziemlich aufwändig und auch nicht besonders human, außer wir
wollen auf einen Teil der älteren Bevölkerung mit Vorerkrankungen verzichten,
die immerhin dankenswerterweise nach Dr. Sprenger (wie auch von der Regierung)
besonders gesetzlich geschützt werden sollen. Und was machen wir während dieser
langen Zeit? Könnten wir einen LockDown so lange
durchhalten bzw. wirklich die Durchseuchung so kontrollieren, dass sie genauso
schnell vor sich geht wie erwünscht?
Ich
bezweifle es und schlage eine alternative Strategie vor:
Schritt 1: Aushungern des Virus durch
einschränkende Maßnahmen, vor allem durch weitgehende Beibehaltung der
relativen bzw. kontrollierten Schließung der Grenzen und der Flughäfen
und internationalen Reisezüge (wie wir es derzeit ohnehin praktizieren), um den
Import von Infizierten so weit wie möglich zu reduzieren, bis die Zahl der
Infizierten tatsächlich Null erreicht hat. Dieser Schritt ist derzeit im Gang,
allerdings ist er noch nicht vollendet, da die Zahl der Infizierten noch nicht
auf Null ist. Wir würden aber nur noch bis ca. zum
kommenden Mittwoch, den 29. April brauchen, bis dieses Ziel erreicht
wäre (natürlich nur, wenn der bisher fallende Trend bei den Ansteckungsraten
weiter anhält).
Schritt
2: An das
Datum, an dem die Infizierten Null sind, müssten sich einige Tage (jetzt würde
ich schon in Richtung Wochen gehen) Wartezeit anschließen, um ev. verbliebene
Infektionsnester aufzufinden und zu entschärfen (Clusteranalysen und „Tests,
Tests, Tests“, wie die WHO nicht müde wird zu betonen). Nun ist das Verhalten
der Ansteckung deutlich vom Auftreten einzelner größerer oder kleinerer hotspots geprägt, zu denen sich vor allem Orte entwickeln,
an denen Menschen längerfristig in einer Gemeinschaft leben (Pflegeheime,
Krankenhäuser, Altersheime, Kasernen, Gefängnisse, Klöster, Asylantenheime,
Waisenhäuser etc.). Solche Orte sollten von den Bezirksbehörden möglichst
frühzeitig (bzw. präventiv) auf Ansteckungsfälle analysiert werden
Schritt
3: Da in
Österreich alle Viren ausgehungert wären, können alle Beschränkungen
aufgehoben werden. Wir alle könnten zurück zum normalen Leben, allerdings bei
nach wie vor kontrollierten Grenzen, um Neuansteckungen zu vermeiden.
Diese Strategie könnte einige hundert Tote, IntensivpatientInnen,
tausende Arbeitslose, KurzarbeiterInnen und vor allem
wirtschaftliche Verluste in Milliardenhöhe vermeiden. Bitte überprüfen Sie
selbst, ob diese Vorgangsweise Sinn machen könnte.
Schritt
4: Suche
nach Nachbarländern, die es ebenfalls bereits geschafft haben, die Zahl der
aktuell Infizierten auf Null zu bringen. Nehmen wir
an, Deutschland wäre ein Kandidat dafür. Dann könnten wir nach einem von
Deutschland durchlaufenen Schritt 2 die Grenzen zwischen Deutschland und
Österreich vollständig öffnen und alle internen Beschränkungen aufheben,
vorausgesetzt, dass auch Deutschland seine Grenzen so kontrolliert wie wir.
Schritt 5: In den weiteren Schritten
wiederholen wir den Prozess mit weiteren Ländern, um eine immer größer
werdende Region ohne Infizierte aufzubauen. Die EU-Kommission sollte
diesen Prozess unterstützen und Hilfen in Form von Geld, Sachleistungen und
Expertise anbieten, die entsprechenden Länder, die dazu reif sind,
identifizieren, und einen Wettbewerb zu fördern, die aktuelle Zahl der
Infizierten auf Null zu bringen. Schließlich wäre
die Region der EU-Länder als vollständige Region rekonstruiert, in der keine
Infizierten mehr vorkommen und die inneren Beschränkungen vollständig aufgehoben
wären. Das wäre einmal eine kooperative und fürsorgende Alternative zur
Konkurrenz zwischen Unternehmen, wobei die Interessen der Mitgliedsländer
und das Interesse der EU als Großregion einander ergänzen und unterstützen.
Anmerkung: Natürlich bedeutet das nicht,
dass wir uns auf EU-Länder beschränken müssten. Wären ev. die Türkei und
Griechenland auf Null, könnten sie natürlich – wenn
sie es nur wollen - eine gemeinsame offene Region bilden, in der intern alle
Beschränkungen aufgehoben wären.
Ich habe
die Strategie Seifenblasenstrategie genannt, aber nicht, weil die EU
zerplatzen sollte, sondern im Gegenteil, dass sich in einem Topf mit
Seifenblasen (einzelne Mitgliedsländer) immer mehr einzelne Blasen zu einer
größeren Blase vereinigen könnten, bis sich im Topf nur noch eine große Blase
befindet, die z. B. (aber nicht ausschließlich) alle EU-Länder umfasst. Die
gemeinsame Voraussetzung, die der Preis der Strategie ist: Die Außengrenzen
sollten gegenüber Viren einigermaßen dicht sein.
Liebe
LeserInnen, bitte machen sie mich per e-mail an
fleissner (at) peterfleissner.at auf eventuelle Alternativen, Ungereimtheiten
oder Schwächen aufmerksam.
Diskussion: Für
und Wider die Seifenblasenstrategie
Die
baltischen Staaten bilden eine Reiseblase, Australien
und Neuseeland überlegen ebenfalls.
Interessant
für mich ist der Presse-Artikel von gestern (7. Mai 2020) zur gemeinsamen
Strategie von Australien und Neuseeland, ihre Wirtschafträume zu vereinen und
einen Reisekorridor zu errichten. Der Artikel verwendet sogar den Ausdruck „Blase“,
um diese Exit-Strategie zu charakterisieren.
Von Wolfgang
Hofkirchner erreichten mich soeben (27. April) ein interessanter Link der Helmholtz-Gesellschaft mit dem Vorschlag
eines Szenarios 3, dem ich beitreten würde, ein Link aus dem Tagesspiegel und ein Link vom Deutschlandfunk.
Interessanter
Weise erreichte mich heute früh (27. April) ein Artikel aus dem Standard
(https://www.derstandard.at/story/2000117092791/null-tote-und-zwei-corona-faelle-in-elf-tagen-vietnam ), den ich offensichtlich überlesen
hatte. Er wurde mir von einem vietnamesischen Freund, der bei mir vor
Jahrzehnten dissertiert und ein mathematisches Modell der Entwicklung des
wiedervereinigten Vietnams über die Behebung der Schäden nach dem Krieg gegen
die USA gebaut hat, weitergeleitet. Er zeigt, wie nötig Grenzabschottungen sein
können.
Von: Karazman, Rudolf <r.karazman@ibg.co.at>
Gesendet: Samstag, 25. April 2020 11:19
An: Peter Fleissner <fleissner@peterfleissner.at>
Betreff: Das ist mein Kommentar und er steht Dir zur Verfügung -
Entschuldige, wir waren gestern verhindert - ich habe mehrere KollegInnen
angefragt und sende Dir ihre Stellungnahmen nachher
Lieber Peter!
Meine Überlegungen zu Deinem Modell:
Die Infektionszahlen sinken und die Reproduktionsrate
bleibt weiter auf 0,63.
Global kann ich Dein Modell nachvollziehen, dass wenn die Grenzen absolut
dicht sind, der Virus ausgetrocknet wird und wir können bald fast alles
„hochfahren“.
Aber: die Grenzen sind nicht dicht, es gibt ein großes hinundher
und insbesondere die Schnittstelle Krankenhaus-Pflege/Öffentlicher Raum muss
massiv kontrolliert werden, denn wir haben noch genügend Hotspots im Land (die
großen Zahlen an Spitalspatienten in KH in Tirol, Stmk,
NÖ. Wien). Also haben wir eine äußere und innere Risiken
zu Deinem Modell. Sind lösbar, aber existieren derzeit.
Im Einzelnen:
Annahmen:
1.
Die Zahl neuer
Infektionen geht runter.
2.
Damit geht auch
die Dunkelziffer runter.
3.
Die
Infektionszahlen und die Reproduktionsrate gehen in
Österreich runter und sind stabil seit einer Woche.
4.
Alle,
die jetzt infiziert sind, sind in zwei Wochen gesund, auf Intensiv oder tot.
D.h. alle die jetzt infiziert sind, sind es in zwei Wochen nicht mehr.
5.
Da
die Reprorate runter geht, kann es bei obigen Annahmen langsam gegen Null
gehen. Das ist die Aussage eine Reprorate von 0,63.
6.
Da
keine neuen Infektionen von außen eingeschleppt werden, kann der Kurs gegen
Null anhalten und null erreichen.
Bis hier sehe ich keinen Widerspruch.
Mögliche Widersprüche, die aber nicht prinzipiell gegen Dein Model für eine
Öffnung zielen:
a.
Spitäler
und Pflegeheime werden zu wenig abgeschirmt….kann
dichter abgeschirmt werden.
b.
Die
Testung und Nachverfolgung mit Quarantäne funktioniert nicht, weil zu wenig
Personal und Ressourcen…. Braucht Zeit, und daher wäre eine Verlangsamung der
Öffnung sinnvoll.
c.
Die
kommende Öffnung geht mit Reduzierung von Social Distancing einher und geht schief, sodass die Rate über
eins geht……Monitoring kann helfen, dies zu verhindern
d.
Personenverkehr
von Hotspots, Pflegeheime etc…..Notfalls müssen
Pflegepersonen zwei Wochen in einer Kapsel mit Pflegenden leben, eine
angesteckte Person muss in Abdeckung transportiert werden
e.
Rest-Ansteckung
bzw, Rezidiv….Beobachtung
mit testing und tracing,
lernen von China und S-Korea u.a.
f.
Transport
und Import von Waren und Früchten…..scheint nicht der
Fall zu sein, weil Virus-Reste nicht anstecken
g.
Eintreffende
Personen….Quarantäne
h.
Grenz-Verkehr, Transporte.…Testung und Monitoring
i.
Blinde
Passagiere…werden nicht viele sein
Alles zu
öffnen verlangt dann:
1.
Bestmögliche
Sperre der Grenzen und Reduzierung von Austausch im
Inneren (da ist nur die Frage, es gibt Transporte, alleine
beim Hofer habe ich die ganze Welt, was ist damit?)
2.
Intaktes GHW,
vor allem extramural - die Praktiker - und
ein Spezifischer Test-Dienst bei Verdacht und dann tracing
3.
Globales
Network zur Impfung und Medikamente (siehe attached)
4.
Und es kommt
Sommer. Daher: Vorbereitung auf Herbst
Das
einzige was ich mir noch denke ist, es wäre dann noch eine Woche Verlängerung
zur Senkung der Reproduktionsrate unter 0,4 wichtig.
Lieber
Peter, Deine Modellierung scheint mir plausibel, überraschend für mich, aber
wenn ich mir Tirol anschaue, ist das völlig zum Guten
gekippt.
Von 3500 Positiv Getesteten sind 3000 genesen, geringe Neu-Infektion auch
bei gelockerten Quaratänen und diese Dynamik kann
auch für die Dunkelziffer angenommen werden.
Schließlich: Wir sitzen auf einem Pulverfass und das Hantieren mit offenem
Feuer ist streng verboten.
Danke und liebe Grüße
Rudi
Siehe auch http://transform.or.at ; http://peter.fleissner.org/Covid/Covid_Access ; http://peter.fleissner.org/Covid/Covid_main ;