Peter Fleissner

 

 

Als Wahlbeobachter

in Venezuela

 

Unter dem Jubel von Hunderttausenden erinnerte Hugo Chávez am Abend des 3. Dezember vom „Balkon des Volkes“ des Miraflores-Palastes in Caracas an Jesus Christus und seine letzten Worte: „Es ist vollbracht“. Und er fügte hinzu: „Der große Sieg der bolivarischen Revolution ist ein Sieg der Liebe“. In der gleichen Rede verkündete er auch: „Vom Sozialismus wird mich niemand abbringen“.

 

Nach einem turbulenten Wahlkampf zwischen ihm und der Opposition, die sich auf Manuel Rosales geeinigt hatte, wurde Chávez mit 63% der abgegebenen Stimmen wieder zum Präsidenten Venezuelas gewählt.

 

 

HUGO CHAVEZ
62,89%
7.161.637 votos

 

MANUEL ROSALES
36,85%
4.196.329 votos

Wahlberechtigte: 15.417.178

Ergebnisse vom 5. Dezember 2006:

Abgegebene Stimmen: 11.542.841 (74,87%)  

Stimmenthaltungen: 3.874.286 (25,12%)  

Gültige Stimmen: 11.386.029 (98,64%) Ungültige Stimmen: 156.812 (1,35%)Regresar

Regresar

Der drittstärkste Kandidat erhielt nur noch 0.04 Prozent  der Stimmen.

 

Sogar in der im Westen des Landes liegenden Provinz Zulia, wo Manuel Rosales Gouverneur ist, überholte Hugo Chávez mit 51,37% seinen Gegner. Obwohl die Wahl nicht verpflichtend ist, haben 75 Prozent der Wähler ihre Stimme abgegeben. Die vollständigen Ergebnisse finden sich auf der Webseite der Wahlbehörde Venezuelas, dem CNE. Damit hat sich der Linkstrend Lateinamerikas, der sich auf die Länder Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kuba, Nicaragua, Uruguay bezieht, in Venezuela in einem bisher ungeahnten Ausmaß fortgesetzt.

 

Die Wahlen waren wahrscheinlich die am besten vorbereiteten und durchgeführten Wahlen in der Geschichte Venezuelas. Das hatte einen guten Grund. Die Opposition, von Exilanten und Reaktionären in den USA unterstützt, ließ durchblicken, dass sie die Wahlen nicht anerkennen und auf Wahlbetrug plädieren würde. Mit Großdemonstrationen und Versprechungen, die Einnahmen aus dem Ölgeschäft mittels Kreditkarten (Mi negra) monatlich an die armen Teile der Bevölkerung zu verteilen, versuchte Rosales seine Position auszubauen.

 

Die Mehrheit folgte ihm darin nicht und glaubte lieber ihrem Präsidenten, der seit einigen Jahren in zahlreichen Sozialprojekten, den so genannten „misiónes“ die gesundheitliche, ökonomische und Bildungssituation der ärmeren Bevölkerung tatsächlich verbessern konnte. Er öffnete die Krankenhäuser der Staatsbetriebe für die Öffentlichkeit und unterstützte die Organisation von Nachbarschaftsräten, den so genannten „Bolivarischen Zirkeln“, deren Mitgliederzahl zwischen 60.000 und 2,3 Millionen angegeben wird. Sie politisieren die lokale Bevölkerung, machen aber auch Verbesserungsvorschläge an die Regierung. Die finanzielle Grundlage für alle diese Aktivitäten bildet der Verkauf von Erdöl durch die staatliche Erdölgesellschaft, deren Erträge vom jeweiligen Ölpreis abhängen, der sich auf dem Weltmarkt einstellt.

 

Die Wahlen wurden von den USA und der Europäischen Union mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Die EU entsandte eigene Beobachter, die in kleinen Gruppen das ganze Land bereisten, das Carter Center und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ebenfalls. Insgesamt waren wir etwa vierhundert KollegInnen aus den USA, Kanada, Europa, Lateinamerika, dem Nahen Osten und Afrika. Ich selbst war vom Nationalen Wahlrat (Consejo Nacional Electoral - CNE) eingeladen worden, als Wahlbeobachter tätig zu sein.

 

Die Rechtsstellung der Wahlbehörde bedarf dabei einer besonderen Erwähnung. Die von Präsident Chávez vorgeschlagene „Verfassungsgebende Versammlung“ brachte eine Ausweitung der zentralen verfassungsrechtlichen Institutionen. Die Bevölkerung stimmte diesem Vorschlag zu, und daher gibt es heute neben der Exekutive, der Legislative und der Judikative auch die Bürgermacht und eben die Wahlbehörde, wörtlich übersetzt „Wahlmacht“ (poder electoral, repräsentiert durch den CNE) alle gleichberechtigt und unabhängig als höchste Institutionen des venezolanischen Staates. Die Wahlbehörde bereitete die Wahlen vor, bildete das Personal an den Wahltischen aus, stellte Informationsmaterial her, das auch motivierende karibische Musik einschloss, trat fast täglich im Fernsehen und im Hörfunk in Erscheinung und rief die Bevölkerung zur Wahl auf. Sie war für den Ankauf von Wahlmaschinen verantwortlich, die es unmöglich machten, einen Wahlbetrug größeren Stils vorzunehmen. Die Wahlmaschinen sind bezüglich Sicherheit und Datenschutz international gesehen auf dem höchsten technischen Stand, der derzeit möglich ist.

 

Unsere Gruppe bestand aus 13 Mitgliedern, die aus Argentinien, Deutschland, Ecuador, Frankreich, Guatemala, Kanada, Kolumbien und den USA kamen. Wir hatten Gelegenheit, am 3. Dezember ab 6 Uhr früh in Maracay, der Hauptstadt von Aragua, einer Region ca. 200 km westlich von Caracas, elf Wahllokale zu besuchen. Wir begleiteten die Vorbereitungen der Wahltische, das Auspacken der versiegelten Maschinen und deren  Installation, den Wahlvorgang selbst, die Auszählung und die Übertragung der Ergebnisse an die Zentrale in Caracas. Jeder Teilvorgang wurde protokolliert und von den Anwesenden unterschrieben, der Präsidentin des Wahltisches, der Sekretärin, den beiden Zeugen und der als Reserve vorgesehenen Personen. Es war ein langer Tag, voll von dem überwältigenden Eindruck des Willens der Bevölkerung, die schon seit 5 Uhr früh vor den Wahllokalen versammelt war, ihre Stimme abgeben zu können. Die einzige Unruhe, die wir feststellen konnten, war der Unwille der Wartenden, noch immer nicht ins Wahllokal eingelassen zu werden. Der EDV-unterstützte Wahlvorgang hatte seinen Preis: Er verzögerte den Wahlablauf signifikant, sodass Wartezeiten von mehreren Stunden keine Ausnahme waren. Die Vorteile lagen aber auf der Hand: Die Maschine druckt (im Gegensatz zu den Wahlmaschinen in den USA, die kein schriftliches Ergebnis auswerfen) auf Grund der Wahlentscheidung des Wählers einen Wahlzettel aus, der vom Wähler überprüft werden kann und dann in die versiegelte Wahlurne eingeworfen wird. Dadurch wird die Wahlentscheidung transparent und auf allen Stufen des Wahlprozesses überprüfbar, ohne dass die Vertraulichkeit der Wahl gefährdet ist.

 

Die Wahl folgte einem fest vorgeschriebenen Ritual. Zunächst muss sich die WählerIn mit ihrer Identitätskarte ausweisen. Dann wird nachgesehen, ob sie im Wahlregister eingetragen ist. Wenn ja, erfolgt die Leistung einer Unterschrift im Register, besiegelt mit einem Fingerabdruck (der mit jenem im zentralen Wahlregister vorhandenen verglichen werden kann). Dann geht die Person zur Wahlmaschine, die hinter einer Kartonwand abgeschirmt aufgestellt ist. Die Präsidentin des Tisches fragt, ob die WählerIn zur Wahl bereit ist. Sie aktiviert mit einem Druckknopf die Wahlmaschine, an deren Seite auf einer berührungsempfindlichen Oberfläche die Symbole und Namen der Parteien und der zugeordneten Kandidaten abgebildet sind. Auf dieser Oberfläche waren 86(!) Gruppen abgebildet, die vorwiegend Chávez oder Rosales unterstützten. Durch Berühren eines (leider etwas zu klein geratenen) Ovals an der rechten Seite des Symbols der Partei mit dem Finger erscheint der ausgewählte Kandidat auf dem Bildschirm der Wahlmaschine. Nun muss die Wahl durch Berühren des Bildschirms, auf dem „votar“ (wählen!) erscheint, bestätigt werden. Die Maschine druckt einen kleinen Wahlzettel aus, auf dem der Kandidat der Wahl gedruckt geschrieben steht. Die WählerIn begibt sich zur versiegelten Wahlurne und wirft vor Zeugen diesen Wahlzettel ein. Der kleine Finger der WählerIn wird nun in ein Fläschchen mit einer schwer zu beseitigenden Farbflüssigkeit getaucht, damit man erkennen kann, ob sie schon gewählt hat und damit kein weiteres Mal zur Wahl zugelassen wird. Kommt eine WählerIn im Wahlregister nicht vor, wird sie von der Wahlleitung abgewiesen.

 

Die Wahlmaschinen waren, wie andere Maschinen auch, fehleranfällig, manche gaben durch die große Hitze, die in manchen Lokalen herrschte, ihren Geist auf. Sie wurden innerhalb kürzester Zeit (ca. 1 Stunde) durch neue Maschinen ersetzt, die schon im Ausfallplan vorgesehen waren und für den Notfall bereit standen. Stand keine Ersatzmaschine bereit (was in den Lokalen, die ich besuchte, nie vorkam), wurde händisch gewählt.

 

Wir konnten uns innerhalb der Wahllokale völlig frei bewegen, mit allen sprechen, mit denen wir wollten. Vor allem befragten wir die Wahlzeugen der beiden Kandidaten über die Fairness der Wahl oder irgendwelche strittigen Vorkommnisse, von denen es nur wenige gab. Einmal fanden wir eine nicht mit den üblichen gelben Klebestreifen der Wahlbehörde zugeklebte Wahlurne, noch dazu schlecht verklebt. Da wir angehalten worden waren, uns nicht in das Wahlgeschehen direkt einzumischen, gaben wir unseren Bericht an die lokale Wahlbehörde weiter, die den Sachverhalt sofort bereinigte.

 

Eine ältere Frau trat an mich heran, um mir ihr Problem anzuvertrauen. Sie sagte mir, ihre beiden Söhne wären ermordet worden, und einer der beiden schiene immer noch im Wählerverzeichnis auf. Sie wollte die Eintragung löschen lassen, aber die Angestellte der Wahlbehörde hätte sie abgewiesen. Leider mussten wir ihr unseren Informationen entsprechend mitteilen, dass Streichungen aus dem Wahlregister nur auf Grund von amtlichen Urkunden vorgenommen werden dürfen – so lautet die gesetzliche Vorschrift, an die sich die Wahlbehörde trotz der damit verbundenen Härte einer trauernden Mutter gegenüber gebunden fühlte.

 

An einem Wahltisch behaupteten mehrere Wähler und Wählerinnen, die Maschine hätte nicht den Kandidaten für sie ausgedruckt, den sie gewählt hätten, oder im Gegensatz zu ihrer Wahl eine ungültige Stimme (Nullvotum) ausgegeben. Wir besuchten nach Schließung des Wahllokals diesen Tisch ein zweites Mal und konnten nur ein einziges Nullvotum innerhalb einiger hundert Stimmen finden, was darauf hinweist, dass wir in der Mehrheit der Fälle belogen worden waren.

 

Auf die Motive für ihren Wahlgang angesprochen sagten alle Befragten übereinstimmend, dass eine wichtige Entscheidung anstehen würde, dass sie als Staatsbürger ihr Wahlrecht ausüben wollten und dass die Zukunft ihres Landes davon abhängen würde. Die weiteren Begründungen waren dann aber unterschiedlich, die einen sagten, es gehe um die Entscheidung „Demokratie oder Kommunismus“, die anderen meinten, es gehe „um eine bessere Zukunft für alle.“

 

Nach unserer Rückkehr nach Caracas verfasste unsere Gruppe einstimmig einen kurzen Bericht, der feststellt, dass die Wahlen bei hoher Wahlbeteiligung frei, neutral, transparent, vertraulich und sicher durchgeführt worden waren. Sie standen auf einer breiten gesetzlichen Grundlage und waren durch Trainingsprogramme professionell vorbereitet und durchgeführt worden. Wir erwähnten auch den hohen Anteil an Frauen und Jugendlichen, der an den Wahltischen tätig war. Notfalls- und Ausfallspläne erleichterten die Durchführung. Zusammenfassend kamen wir zum Schluss, dass das Wahlsystem der Bolivarischen Republik Venezuela wegen seiner hohen Qualität als Beispiel für alle anderen Länder dienen kann.

 

Ohne weitere Intervention von Seiten der Opposition oder aus dem Ausland hat Hugo Chávez nach diesem Wahlsieg sechs Jahre lang Gelegenheit, die Bolivarische Republik Venezuela ein gutes Stück weiter auf den Weg zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu führen. Aus einem nach drei Jahren weiterer Amtszeit laut Verfassung (Art. 72, Kannbestimmung) möglichen Referendum wird er – wenn mich nicht alles täuscht – im Triumph hervorgehen.

 

Wien, am 10. Dezember 2006

 

Hintergrundliteratur: