Date: 19-05-1995
URL: http://igw.tuwien.ac.at/igw/Personen/
fleissner/papers/Arbeit-Wert-Reichtum/Arbeit.html

  1. Zum Wandel der Begriffe Arbeit, Wert und Reichtum: Von der notwendigen Arbeit zur disposable time
    1. Einleitung
    2. Was ist Reichtum?
    3. Arbeit, Arbeitszeit und Arbeitswert
    4. Erste Wertmodifikationen
    5. Wertverbrauchende Arbeit - Ein Gedankenexperiment
    6. Eine realistische Profitrate
    7. Vernachlässigung der wertverbrauchenden Bereiche
    8. Woher kommen die Profite?
    9. Arbeitszeit als Wertmaß ungeeignet
    10. Disposable Time
    11. Kann die Werttheorie noch eine Rolle spielen?
    12. Wertmodifikationen für nachhaltiges Wirtschaften
      1. 1. Remuneration bisher unbezahlter Arbeit
      2. 2. Eine Wertmodifikation für die Dritte Welt
      3. 3. Der Wert der Natur
      4. 4. Äußere und innere Arbeitszeitverkürzung
      5. 5. Neue Formen der Selbständigkeit
    13. Schlußbemerkung


Zum Wandel der Begriffe Arbeit, Wert und Reichtum: Von der notwendigen Arbeit zur disposable time

Einleitung

Nach Meinung von Ernst Bloch, den ich vor vielen Jahren noch in Wien hören konnte, haben sich die gesellschaftlichen Zielvorstellungen im Laufe der Geschichte radikal verändert: Galt in der Antike (natürlich nur für die Freien) die Genußfähigkeit als wichtigstes Ziel, stand im Mittelalter die Glaubensfähigkeit im Mittelpunkt. Heute wäre die Arbeitsfähigkeit das Zentrum gesellschaftlicher Erfordernisse. Dieser Beitrag soll sich damit beschäftigen, ob und in welche Richtung eine Veränderung dieses gesellschaftlichen Leitbegriffs vor sich gehen und welche Rolle er längerfristig im Rahmen einer modernen Volkswirtschaft spielen könnte. Arbeit ist nach wie vor der Stoff, auf dem die Wirtschaft beruht. Sie verwandelt Naturstoffe in humane oder weniger humane Stoffe, aus ihr erwachsen Dienste für oder gegen die Mitmenschen. Arbeit als Prozeß hat ihre Wirkungen auf uns, die wir arbeiten. Die Ergebnisse der Arbeit verwandeln unser Leben, unser Denken und unsere Arbeit selbst. Sie hinterlassen ihre Spuren an Mensch und Natur.

In unserem Wirtschaftssystem ist der Zugang zu den Ergebnissen der Arbeit anderer, zu Gütern und Diensten, in der Regel nicht gratis. Er wird durch Preise vermittelt. Adam Smith hat noch gedacht, die Preise wären der geleisteten Arbeitszeit proportional. Wir wollen der Frage nachgehen, wie weit die Arbeitszeit in Zukunft noch als Grundlage der Preise gelten kann und darf. Diese Untersuchung soll helfen, den theoretischen Anschluß an gegenwärtige Entwicklungen und Tendenzen zu finden, die - bereits heute in Keimform vorhanden - in Zukunft für die Umgestaltung der Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit relevant sein können.

Was ist Reichtum?

Ebenso wie sich die gesellschaftlichen Leitbegriffe wandelten, wechselte im Lauf der Geschichte auch die inhaltliche Bestimmung dessen, was im materiellen Sinne als Reichtum und was als wertvoll angesehen wurde. Die Auffassungen darüber geben gleichzeitig die Wege an, wie man zu Reichtum kommen kann. Sie finden ihren Niederschlag in entsprechenden Modifikationen des Wertbegriffs: Im Feudalismus wurde Reichtum durch die Anhäufung von Schätzen erworben, im Merkantilismus wurde man durch den Transfer von Schätzen reich, bei den Physiokraten galt Reichtum als Frucht der Natur. In der Anfangsphase des Kapitalismus setzte Adam Smith 1776 in "An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" (Der Wohlstand der Nationen, dtv, München 1978, S. 272-274) eine neue Definition: Nicht mehr die Schätze, angehäuft durch Raub oder Ausplünderung, wären das Maß des Reichtums, sondern die menschliche Arbeit, die in einem Land geleistet wird. Er meinte dabei immer die sogenannte produktive Arbeit. Die unproduktive Arbeit, selbst die des Herrschers samt seiner Justizbeamten, der Geistlichen, Schauspieler, Rechtsanwälte, Clowns, Ärzte und Operntänzer charakterisierte er als parasitär, sie lebten vom Einkommen anderer.

Arbeit, Arbeitszeit und Arbeitswert

Marx führte die Ideen von Adam Smith, David Ricardo und Thomas Robert Malthus weiter, bereinigte deren Widersprüche und schuf eine umfassende Analyse und Kritik des Kapitalismus, den er als historisch gewachsen und daher auch als vergänglich ansah. Er zeichnete die allgemeinen Züge des Wirtschaftsprozesses nach: Arbeit in ihren verschiedenen Spezialisierungen (Arbeitsteilung) und mit technischer Unterstützung auf unterschiedlichem Niveau erlaubt es den Menschen, in den vorgefundenen Stoffwechsel zwischen Gesellschaft und Natur einzugreifen, eine zweite Natur, technische Artefakte, aufzubauen, und durch den immer virtuoseren Umgang mit der Natur und der Gesellschaft sich selbst umzugestalten.

Diese Aussage gilt allgemein, kennzeichnet aber noch nicht die bestimmte Form der Produktionsverhältnisse. Daher wurden durch Marx ihre näheren Bestimmungen herausgearbeitet: Mit der historisch erfolgten Trennung der Gesellschaft in Personen und Personengruppen (Klassen), die im Besitz der Produktionsbedingungen sind (Kapitalisten), und jene, die nichts außer ihrer Arbeitskraft zu verkaufen haben (Arbeiterklasse), entstand eine neue Ungleichheit, einer der Gründe für die Demokratieunverträglichkeit des Kapitalismus. Obwohl die Besitzer der Produktionsmittel in der zahlenmäßigen Minderheit sind, üben sie durch die Entscheidung über den Einsatz der Produktionsmittel und die Art und den Umfang der Produktion übergroßen gesellschaftlichen Einfluß aus. Die historisch entstandene Notwendigkeit, die arbeitsfähigen Menschen in organisierter Weise mit den Produktionsmitteln zusammenzubringen, erzeugte den Arbeitsmarkt und die Möglichkeit der Arbeitslosigkeit. Die Mehrheit der Menschen produziert nicht für sich selbst, sondern für andere. Daraus folgt die Entfremdung der Arbeitenden von den Produkten ihrer Arbeit, den Waren.. Die Arbeiter und Angestellten erhalten für ihre Arbeit vom Unternehmen nicht den vollen Ertrag zurück, der am Markt für ihre Arbeit erzielt wird (wie es bei den kleinen und großen Warenproduzenten der Fall ist), sondern nur einen bestimmten Anteil daran, den Lohn. In diesem Unterschied liegt das Phänomen der Ausbeutung begründet. Da die tatsächliche Organisation der Wirtschaft aber keine unmittelbaren Beziehungen zu anderen Menschen erfordert, sieht es so aus, als ob die Waren ein seltsames Eigenleben besäßen (Fetischcharakter), obwohl sie genauer betrachtet Ergebnisse menschlicher Arbeit sind, Arbeit von lebendigen Menschen für andere Menschen. Waren werden über Märkte gegen Geld ausgetauscht. Dadurch gegen die direkten Beziehungen verloren, sie werden als solche unsichtbar. Geld und Waren sind aus der Sicht von Marx nichts anderes als geronnene Arbeitszeit, wobei die Waren je nach Gebrauch unterschiedliche Nützlichkeiten besitzen, Geld aber dadurch, daß es sich über den Markt in jede beliebige Ware verwandeln kann, eine besondere Form von Nützlichkeit besitzt, nämlich die allgemeine Ware verkörpert. Geld ist deshalb so faszinierend, weil es potentiell die Fülle aller menschlichen Möglichkeiten verfügbar macht. Die den Waren am Markt zugeordneten Preise stellen das Ergebnis gesellschaftlicher Mechanismen und Bewertungen dar. Ihre letzte Grundlage ist die menschliche Arbeit, auch wenn die Arbeitszeit als quantitatives Bestimmungsstück des Preises immer mehr an Bedeutung verliert. Darauf wird weiter unten noch genauer eingegangen. Nun wollen wir einige Voraussetzungen beleuchten, auf denen die klassische Werttheorie aufbaute.

Erste Wertmodifikationen

Bereits Malthus hatte seine Probleme mit dem Wertkonzept von Adam Smith. Die Erklärung des Übergangs von einer Preistheorie auf der Grundlage der aufgewendeten Arbeitszeit zu den in der Wirklichkeit auftretenden Preisen gelang ihm nicht. Die Werttheorie nach Smith paßt auf eine idealtypische Gesellschaft aus kleinen Warenproduzenten, also für Kleinbauern oder Handwerker, bei denen die Produktionsmittel vernachlässigt werden können. Ebenso ging Marx im "Kapital", Band 1, zunächst davon aus, daß die Marktpreise nichts anderes als die in Geldeinheiten umgerechneten gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeitaufwendungen direkter und indirekter Art darstellen, hat aber diesen Ansatz nur als Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen genommen. Wir wollen das durch Arbeitszeit definierte Preissystem das System der Arbeitswertpreise nennen. Wie wir wissen, sind die tatsächlich beobachtbaren Preise am Markt nicht mit den Arbeitswertpreisen identisch. Marx hat dieses Problem gesehen und im Band 3 des Kapital eine Näherungslösung für diesen (später Transformationsproblem genannten) scheinbaren Widerspruch vorgeschlagen, die im weiteren viel kritisiert wurde. Dabei ging er in seiner Theorie implizit von einer Gesellschaft der kleinen Warenproduzenten mit Arbeitswertpreisen zu einer Gesellschaft von Kapitalisten über, die unter idealisierten Konkurrenzbedingungen agieren, und gab eine Methode an, welche das Arbeitswertpreissystem in die sogenannten Produktionspreise überführte, die in allen Sektoren die gleiche durchschnittliche Profitrate ermöglichen. Bortkiewicz hat um die Jahrhundertwende die Marxsche Näherungslösung vollendet und eine korrekte Lösung angegeben. Heute kann man davon ausgehen, daß das Transformationsproblem unter den einschränkenden Bedingungen einer invarianten Produktionsstruktur und unter vollkommener Konkurrenz der kapitalistischen Betriebe geklärt ist.

Wertverbrauchende Arbeit - Ein Gedankenexperiment

Allerdings bleiben immer noch viele ökonomische Fragen offen. Wie ich anhand eines Gedankenexperiments zeigen will, gilt die Arbeitswertlehre in der klassischen Form nicht für solche Arbeitsbereiche, deren Output nicht akkumuliert werden kann. Manche Dienstleistungen, jene, die im Augenblick ihrer Entstehung verbraucht werden, die weder gelagert noch weiterverkauft werden können, sondern sofort konsumiert werden müssen, stellen zwar Gebrauchswerte dar, da aber wegen der Nichtakkumulierbarkeit kein Mehrprodukt, und wegen der fehlenden stofflichen Basis auch kein Mehrwert erzeugt wird, sondern Tauschwerte verbraucht werden, nenne ich diese Bereiche zum Unterschied von den klassischen werterzeugenden Sektoren wertverbrauchend. Die Erzeugung von Wissen in kapitalistischen Dienstleistungsbetrieben, Forschung und Entwicklung, fallen genau unter diese Kategorie.

Nun zum Gedankenexperiment, das den unterschiedlichen Status von Arbeiten im werterzeugenden und im wertverbrauchenden Sektor klarmachen soll. Denken Sie sich eine Wirtschaft kleiner Warenproduzenten bestehend aus Kleinbauern und Geschichtenerzählern, die alle mit der je gleichen Technologie auf eigene Rechnung für den Markt produzieren. Die Bauern müssen nach der klassischen Arbeitswerttheorie über den Markt in Geld eine Entsprechung für die gesamte Arbeitszeit zurückerhalten, die sie geleistet haben. Damit sind sie in der Lage, über ihre (gleichbleibenden) Konsumerfordernisse hinaus z. B. Getreide für die Aussaat im nächsten Jahr zu akkumulieren. Die Summe dieses nicht konsumierten Getreides entspricht dem gesellschaftlichen Mehrprodukt. Die Geschichtenerzähler sind per definitionem an der Erzeugung des Mehrprodukts nicht direkt beteiligt. Sie können, soll die obige Bedingung der vollen Entschädigung für die Bauern nicht verletzt werden, nur soviel für ihre Leistungen erhalten, als sie selber verbrauchen, aber keine Sekunde an Mehrwert akkumulieren. Der Einfachheit halber nehmen wir an, daß die Geschichtenerzähler und die Bauern pro Kopf die gleichen Aufwendungen für ihre Reproduktion benötigen, also der hypothetische "Lohn" gleich hoch sei.

Nun wollen wir die Wirtschaft in ihrer Ausgangssituation (W0) auf zwei verschiedene Arten wachsen lassen, einerseits durch das Zuwandern eines weiteren Bauern (W1), als Alternative durch die Zuwanderung eines weiteren Geschichtenerzählers (W2). Vergleichen wir nun die durchschnittlichen Mehrwertraten dieser unterschiedlichen Wirtschaften (gesamter Mehrwert dividiert durch das gesamte variable Kapital als Summe aus den hypothetischen Löhnen der Bauern und als Summe der Löhne der Geschichtenerzähler, die deren gesamte Einnahme verkörpert), so können wir feststellen, daß die Mehrwertrate in W1 größer sein wird als die Mehrwertrate der Ausgangssituation W0, und jene wieder größer als die Mehrwertrate in der Situation W2. Warum? Der zusätzliche Bauer erhöht das gesamte Mehrprodukt, während der zusätzliche Geschichtenerzähler dies nicht tun kann. Das variable Kapital ist in beiden Situationen, W1 und W2, gleich groß, der Mehrwert ist aber in W1 größer als in W2, wodurch die Mehrwertrate in W2 kleiner ist als in W1.

Eine realistische Profitrate

Die oben verwendete Mehrwertrate läßt sich ohne Beschränkung der Allgemeinheit der obigen Aussage als Näherung für die im entfalteten Kapitalismus anzuwendende Profitrate ansehen. Der Unterschied besteht im Nenner. Während die Mehrwertrate nur das variable Kapital (die Löhne und Gehälter) umfaßt, ist die Profitrate auf den gesamten Kapitalvorschuß bezogen. Er setzt sich aus konstantem (c) und variablem Kapital (v) zusammen. Beträgt die Umschlagszeit nicht genau ein Jahr, sondern T Jahre, läßt sich eine reale, auf ein Jahr bezogene Profitrate r nach der Formel

r = m/[cfix+T.(czirk+v)]

errechnen, wenn die Löhne im voraus bezahlt werden. cfix meint dabei das fixe Kapital, also den Zeitaufwand für Bauten und Ausrüstungsgegenstände, czirk das zirkulierende Kapital, also Vorschüsse für Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe und Halbfertigwaren, gemessen in Arbeitszeit. Die Profitrate r läßt sich nicht nur in Arbeitszeit, sondern auch in Einheiten anderer Preissystemen ausdrücken, z.B. wird der Mehrwert bei Anwendung der Ist-Preise zur tatsächlich in Geldeinheiten ausgedrückten Profitmasse, bei Produktionspreisen zu einer idealisierten Form von Profiten in einer Konkurrenzwirtschaft.

Vernachlässigung der wertverbrauchenden Bereiche

Marx hatte den Unterschied zwischen werterzeugender und wertverbrauchender Produktion in dem Bereich, der von ihm als nichtmateriell bezeichnet wurde, wohl gesehen, aber als unbedeutend vernachlässigt. Wir zitieren ihn aus den Theorien über den Mehrwert, dem sogenannten 4. Band des Kapital:

Bei der nichtmateriellen Produktion, selbst wenn sie rein für den Austausch betrieben wird, also Waren produziert, ist zweierlei möglich:

1. Sie resultiert in Waren, Gebrauchswerten, die eine von dem Produzenten und Konsumenten verschiedene selbständige Gestalt besitzen; also in einem Intervall zwischen Produktion und Konsumtion bestehen können, als verkäufliche Ware in diesem Intervall zirkulieren können, wie bei Büchern, Gemälden, kurz allen Kunstprodukten, die von der Kunstleistung der exekutierenden Künstler verschieden sind. Hier ist die kapitalistische Produktion nur in sehr beschränktem Umfange anwendbar...

2. Die Produktion ist nicht trennbar von dem Akte des Produzierens, wie bei allen exekutiven Künstlern, Schauspielern, Lehrern, Ärzten, Pfaffen usw. Auch hier findet kapitalistische Produktionsweise nur in geringem Umfang statt und kann der Natur der Sache nach nur in einigen Sphären stattfinden. (K. Marx, Theorien über den Mehrwert, in: Marx, Engels, Werke, Band 26.1, Berlin 1974, S. 425).

Weiters meinte er:

Alle diese Erscheinungen der kapitalistischen Produktion auf diesem Gebiet sind so unbedeutend.., daß sie gänzlich unberücksichtigt bleiben können. (a.a.O., S. 426).

Heute sind diese Erscheinungen wichtiger geworden. Immerhin werden in Österreich etwa 70 Prozent der Arbeitszeit in diesen damals "unbedeutenden" Bereichen verausgabt, die wir heute im wesentlichen als Dienstleistungssektoren bezeichnen. Diese Erscheinungen führten in den früheren sozialistischen Ländern zu ziemlichen theoretischen Verwirrungen und letztlich zu einer Unterbewertung von Dienstleistungen im allgemeinen, weil Dienstleistungen fälschlich mit dem abwertenden Vokabel "unproduktiv" bezeichnet worden waren, da sie nicht direkt mehrprodukt-, und unter kapitalistischen Bedingungen nicht mehrwerterzeugend sind. Auch im Westen nahmen manche Industrievertreter diesen Effekt der Dienstleistungen zum Anlaß, die vor sich gehende Entindustrialisierung zu beklagen.

Würden sich die wertverbrauchenden Sektoren ausdehnen, müßte die Durchschnittsprofitrate ceteris paribus fallen, unter der Voraussetzung, daß die wertverbrauchenden Sektoren keine Veränderungen in der Technologie mit sich bringen.

Die indirekten Effekte der wertverbrauchenden Sektoren auf die gesamte Volkswirtschaft werden durch das in der Produktion implementierte Wissen erzeugt. Durch das Wissen wird einerseits die Arbeitsproduktivität erhöht, und ein sparsamer, ökonomischer Umgang mit den eingesetzten Stoffen und Energie ermöglicht, andererseits kann dieses Wissen, das in Dienstleistungsbereichen erzeugt wird, über technische Neuerungen zu innovativen Produkten und Prozessen führen. Damit läßt sich die Durchschnittsprofitrate wieder erhöhen bzw. können neue Märkte für Produkte aufgetan werden, deren Herstellung im Laufe der Zeit wieder der Rationalisierung unterworfen wird.

Woher kommen die Profite?

Wie lassen sich dann aber die tatsächliche Kapitalakkumulation und die Profite im Dienstleistungsbereich erklären, wenn sie keinen Mehrwert als Quelle von Profit erzeugen? Die Antwort dafür liegt im realen Preissystem, das vom Arbeitswertpreissystem abweicht. Marx sprach schon von einer Wertmodifikation im Konkurrenzkapitalismus, als er sein Produktionspreissystem entwickelte, das von gleichen Profitraten in allen Sektoren ausging. Das Produktionspreissystem läßt sich zur theoretischen Erklärung der Profitabilität von Dienstleistungen ebenfalls heranziehen, allerdings gehen die Profite im Dienstleistungssektor zu Lasten der Profite, die in den werterzeugenden Sektoren anfallen. Da sich durch Veränderung der Profitraten neue Preissysteme ergeben, ist die Gleichheit der Mehrwertmasse mit der gesamten Profitmasse nicht mehr exakt sichergestellt (wie Marx noch annahm), wenn man etwa als Normierungsbedingung die Invarianz der neugeschaffenen Werte (vor und nach der Transformation) oder, alternativ dazu, die Invarianz der Summe aller zu den jeweiligen Preissystemen bewerteten Gebrauchswerte voraussetzt.

Arbeitszeit als Wertmaß ungeeignet

Wir können feststellen, daß jene Arbeitszeit, die in der materiellen Produktion verausgabt wird und als letztes Element einer Kette von gesellschaftlichen Aktivitäten für die Erzeugung von Mehrwert verantwortlich ist, absolut und relativ zur Gesamtarbeitszeit immer kleiner wird. Diese Tendenz führt zu einer interessanten Feststellung. Die Arbeitszeit hört längerfristig auf, ein geeignetes Maß für den Reichtum einer Gesellschaft zu sein. Nicht mehr der quantitative Aspekt von Arbeit in Zeiteinheiten ist heute wichtig, sondern der Gebrauchswertaspekt, den Marx im ersten Buch zum Kapital aus der politischen Ökonomie ausgeschlossen und in eine eigene, von ihr getrennte Disziplin verbannt hatte (heute erhält die Gestaltung von Gebrauchswerten auch in der Umweltfrage größte Bedeutung). :

Die Gebrauchswerte der Waren liefern das Material einer eigenen Disziplin, der Warenkunde. (MEW, Band 23, Dietz, Berlin 1979, S. 50)

Dienstleistungssektoren erzeugen in diesem Sinne ausschließlich Gebrauchswerte, sind aber nicht direkt an der Produktion von Mehrwert und damit an der Quelle für Profite beteiligt. Es scheint interessant, dazu die Marxschen Überlegungen aus den Grundrissen zu zitieren (Berlin 1981, S. 592):

In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder - deren powerful effectiveness - selbst wieder in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion ... Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper - in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint. Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne. Sobald Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift.

Disposable Time

Im selben Buch finden wir eine neue Wendung in der Interpretation von Reichtum (die vom realen Sozialismus nicht mitgemacht wurde), die meiner Ansicht nach höchste Aktualität besitzt: Der Reichtum der Gesellschaft wird in den "Grundrissen" für die spätindustrielle Phase nicht durch Arbeitszeit, sondern durch die Freiheit von notwendiger Arbeit gemessen, durch disposable time, über die sich die allseitige Entwicklung und damit die Emanzipation der Menschen erst real herstellen kann:

Wealth ist nicht Kommando von Surplusarbeitszeit, sondern disposable time außer der in der unmittelbaren Produktion gebrauchten für jedes Individuum und die ganze Gesellschaft,

zitiert K. Marx zustimmend einen Anonymus in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie (Berlin 1981: S. 594). Und zwei Seiten danach finden wir:

Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time das Maß des Reichtums.

Damit wird die Richtung für die Veränderung der Arbeitsinhalte gewiesen: Es geht längerfristig nicht mehr um die manuelle Arbeit, die zunehmend auf die Maschinerie ausgelagert wird, um die mechanische Geschicklichkeit, auch nicht mehr um schnelles Rechnen, das längst von elektronischen Rechengeräten ausgeführt wird, sondern es geht um den schöpferischen Prozeß selbst. Kreativität kann von Maschinen nur äußerst eingeschränkt nachgebildet werden, auch wenn sich nach der mechanischen Maschine der industriellen Revolution, der informationsverarbeitenden Maschine und den Automaten der Gegenwart nun die evolutionäre Maschinerie (im Bereich der AI und im Bereich der Gen- und Biotechnologie) abzuzeichnen beginnt.

Neben die traditionelle Frage, mit wieviel Aufwand ein Gegenstand erzeugt werden kann, tritt die Frage, ob nicht qualitativ neue Möglichkeiten der Herstellung bestehen, ja, ob nicht alternative Formen der Befriedigung von Bedürfnissen möglich sind. Der kreative Akt, der solche Möglichkeiten auftut, ist aber nicht reproduzierbar - was die Arbeitswertlehre aber für die Wertbildung vorausgesetzt hat.

Kann die Werttheorie noch eine Rolle spielen?

Da wir gegenwärtig noch in der Phase des beinahe allgegenwärtigen Tauschwertes leben, kann die Arbeitswerttheorie nach einigen Relativierungen und unter verschiedenen Modifikationen des Begriffs "Arbeitswert" als eine Quelle für das Verständnis der geschichtlichen und zeitgenössischen politisch-ökonomischen Entwicklung herangezogen werden. Dies ist gegen einen Ersatz des Arbeitsbegriffes durch naturwissenschaftlich verengte Alternativbegriffe gemeint, wie etwa Energie, Entropie oder Information. Eventuell könnte sich auch der über ein Jahrhundert heftig geführte Streit im Elfenbeinturm der Ökonomen zwischen den Anhängern der objektiven und der subjektiven Wertlehre auf einem höheren Niveau in einer gemeinsame Theorie beider Sichtweise beenden lassen. Durch die zentrale Kategorie "Arbeit" ermöglicht die Werttheorie nach wie vor eine (wenn auch an die Gegenwartsprobleme anzupassende) integrierte ontologische Gesamtinterpretation der Rolle der gesellschaftlichen Menschen und ihrer Perspektiven, die von philosophischen Aspekten über die politische, wirtschaftliche, soziale und sozialpsychologische Seite bis in die Naturwissenschaften und Technik reichen könnte. Sie legt damit einen gemeinsamen Grundstein für interdisziplinäres Arbeiten, das über das bloße Neben- oder Nacheinander hinausgeht.

Arbeitszeitmaße als Indikator für den Reichtum werden dagegen immer problematischer. Hier zeichnet sich, wenn auch anders als von Marx gedacht, ein Übergang ab, der sich in den Überlegungen der Sozialpartner zu neuen arbeitszeitunabhängigeren Entlohnungsformen, in der Frage nach einem Grundeinkommen, nach der gesellschaftlichen Entlohnung von Hausarbeit usw. andeutet. Die Preise entkoppeln sich immer mehr von der durch die Arbeitszeit gegebenen Grundlage. Neue Wertmodifikationen sind angesagt und müssen gesellschaftlich organisiert und administriert werden. Sie werden notwendig, soll sich die gegenwärtige Formation nicht selbst in den Ruin steuern.

Wertmodifikationen für nachhaltiges Wirtschaften

Meiner Meinung nach läßt sich die Arbeitswerttheorie noch weiterentwickeln, indem sie stärker als bisher an zeitgenössische Problemlagen und an die damit verbundenen politisch-ökonomische Prozesse angeschlossen wird. Die theoretischen Grundlagen müssen dabei nur ausgedehnt, aber nicht ausgewechselt werden. Mehrere Varianten sind denkbar: Von den gegenwärtigen globalen Problemen ausgehend müßten - in wohlverstandenem Eigeninteresse - Fragen der sozialen Ungleichheit und Diskriminierung (im kleinen wie im großen) und der Naturerhaltung mit der Werttheorie verbunden werden. Wir greifen einige Beispiele heraus.

1. Remuneration bisher unbezahlter Arbeit

Unter dem Einfluß der neuen sozialen Bewegungen beginnt sich eine Verschiebung in der Ansicht, wie der Reichtum einer Gesellschaft heute verwendet werden sollte, bereits vor unseren Augen zu vollziehen: Da die Gesellschaft immer mehr als komplexes Gebilde gesehen wird, in dem beinahe alle Tätigkeiten zur Aufrechterhaltung der Produktion wichtig geworden sind, auch diejenigen außerhalb der formellen Produktion, wird der Ruf nach einem "Basiseinkommen" erhoben. Die Quelle des Reichtums sind nunmehr alle Menschen, ohne Unterschied bezüglich Alter, Rasse, Beruf usw. Jeder soll daher auch einen Anteil am Kuchen erhalten. Schon bei den Utopischen Sozialisten, dann später in Österreich und dem Deutschen Reich zu Beginn dieses Jahrhunderts[1] haben sich Wissenschaftler und Politiker zu Wort gemeldet, die aus sozialen Gründen einer breiteren Streuung des Nationalreichtums das Wort geredet haben. Insbesondere im Zuge der Ausweitung der Berufstätigkeit der Frau in der Nachkriegszeit hat sich der Lohnarbeitsbegriff so verallgemeinert und eingebürgert, daß im Gegensatz zur Reproduktionskostentheorie der Klassiker, wo der Lohn des Arbeiters die Reproduktionskosten der ganzen Familie umfassen sollte, ein individuelles Entlohnungsmodell in den Vordergrund gerückt wird, das nun auch auf die Hausarbeit ausgedehnt werden soll. Hausarbeit sollte danach wie Lohnarbeit individuell entschädigt werden. Im Basislohn erfährt das Prinzip der individuellen Zurechnung von Entschädigungen eine zusätzliche Modifikation - eine Erweiterung um eine soziale und eine Gleichberechtigungskomponente. Das bezogene Einkommen soll nach unten hin unabhängig von der Leistung des Einzelnen werden. Diese Forderungen lassen sich durchaus in die Tradition der MarxistInnen einordnen (wonach im Sozialismus ja "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung", im Kommunismus "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" tätig sei bzw. dafür entsprechend entschädigt würde). Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie weit die Klassiker des Sozialismus dabei auch an die Hausarbeit gedacht haben. Deren Vorstellungen waren eher von einer Verlagerung der Hausarbeit in den öffentlichen Bereich gekennzeichnet (öffentliche Küchen, Wäschereien, Kindergärten usw.), in dem wieder bezahlte Arbeit dominiert. In den Haushalten selbst würde danach kaum Arbeit in nennenswertem Ausmaß anfallen - eine Hoffnung, die nicht aufgegangen ist, weder im Westen, noch im Osten. Dort wurde gleichermaßen auf die Maschinisierung des Haushalts gesetzt, allerdings zeigt sich bei allen Zeitbudgetstudien, daß die Hausarbeitszeit durch den Geräteeinsatz kaum reduziert werden konnte. Im allgemeinen wuchsen parallel zur höheren Technisierungsrate die Anforderungen. Die Vorstellungen von Sauberkeit und Reinlichkeit erreichten ein höheres Niveau - bei gleichzeitiger erhöhter Toleranz gegenüber der Verschmutzung der Gewässer. Auf die Frage der Finanzierung gehe ich noch weiter unten ein.

Während Marx den Sektor der Hausarbeit aus seinen Reproduktionsschemata implizit ausgeschlossen hat, indem er die Arbeitsfähigkeit des Proletariers nur über Waren, die auf der Gebrauchswertebene dem Wert der Ware Arbeitskraft als variablem Kapital entsprechen, wiederherstellen läßt (Arbeitsfähigkeit ist danach eine durch Waren alleine reproduzierbare Ressource), findet sich bei Engels im Vorwort zur ersten Auflage des "Ursprungs der Familie" das interessante Zitat "Nach der materialistischen Auffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens. Diese ist aber selbst wieder doppelter Art. Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andrerseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung".[2] Der Werttheorie würde aber ein schlechter Dienst geleistet, subsumierten wir die Hausarbeit unter die Kategorie der wertschaffenden Arbeit. Schließlich ist die Werttheorie auf jenen Ausschnitt der Gesellschaft zugeschnitten worden, der Waren für den Markt erzeugt. Reproduktionsarbeit ist aber viel älter als der Markt. Ihre quantitative Analyse sollte daher auf der Abstraktionsstufe von Arbeitszeit, nicht jedoch auf der Stufe von Arbeitswert vorgenommen werden. Arbeitszeit und Arbeitswert fallen nicht nur bei den am Markt angebotenen Dienstleistungen, sondern auch bei der Hausarbeit auseinander. Während im Haushalt Gebrauchswerte hergestellt werden, wird dem gesellschaftlich neugeschaffenen Wert direkt kein Gramm hinzugefügt. Diese Feststellung ist nicht als Diskriminierung der Hausarbeit zu interpretieren, sondern bloß der nötigen Begriffshygiene geschuldet. Arbeitswertrechnungen wären daher sinnvollerweise um Arbeitszeitrechnungen zu ergänzen, wobei sich dem Ausbeutungsbegriff der Werttheorie analoge Indikatoren bilden lassen[3].

2. Eine Wertmodifikation für die Dritte Welt

Einschneidende Folgen hat das blinde Wirken des Wertgesetzes für die Dritte Welt, die zum Anbieten von Waren auf dem Weltmarkt gezwungen ist, auf dem wesentlich effektivere Mitbieter aus den entwickelten Ländern auftreten, und die oft Abnahmebedingungen gegenübersteht, die durch außerökonomische Maßnahmen zusätzlich ungünstig verändert wurden und werden. Obwohl hier nicht im gleichen Sinne von Ausbeutung gesprochen werden kann wie im Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit, finden laufend ähnliche strukturelle Benachteiligungen für die Dritte Welt statt wie sie die Arbeit gegenüber dem Kapital aufweist. Sie sind aber dem Wirken des Wertgesetzes geschuldet, nicht dem Verhältnis zwischen den Eignern der Produktionsbedingungen und den Besitzern des Arbeitsvermögens. Gleichzeitig erfordert der Schuldendienst einen Tribut an die entwickelten Länder in einem Ausmaß, der die gegebene Entwicklungshilfe übersteigt[4]. Im wohlverstandenen Eigeninteresse der entwickelten Länder wird eine neue Weltwirtschaftsordnung mit günstigeren Terms of Trade (damit würde im Sinne des bisher gesagten eine weitere Wertmodifikation gesetzt) für die Entwicklungsländer und einer großzügigen Entschuldungsaktion nötig, die aus den gegenwärtigen Sackgassen der nachholenden Entwicklung (Modernisierungstheorien) und der Abkopplung (Dependenztheorien) herausführen könnte.

3. Der Wert der Natur

Die Natur, neben der Arbeit die zweite, bisher als gratis angenommene Quelle von Reichtum, wurde nicht zuletzt gerade durch ihre Vernachlässigung im ökonomischen Kalkül soweit geschädigt, daß die Existenzgrundlagen der Menschen bedroht sind. Um überleben zu können, wird es der Menschheit nicht erspart bleiben, die Schäden an der Natur in die ökonomische Rechnung einzubeziehen und auf diese Weise die Natur quasi zu remunerieren. Der erweiterte ökonomische Kalkül wird allerdings dort nicht zum Erfolg führen, wo irreversible Prozesse der Schädigung aufgetreten sind. So kann etwa eine ausgestorbene Tierart durch die derzeit zur Verfügung stehenden technischen Mittel nicht wiederbelebt werden, nicht erneuerbare Ressourcen bleiben auf ewig verloren. Hier bedarf es außerökonomischer politischer Entscheidungen, welche die Vor- und Nachteile des Vernutzens von Natur gegeneinander abzuwägen erlauben, und Institutionen, die das Ergebnis als Rahmenbedingung für die Wirtschaft durchsetzen können. Es scheint klar, daß die bisherigen demokratischen Instrumente diese Ziele nur mangelhaft erreichen können. Für die ökonomische Seite des Problems wird aber die explizite Berücksichtigung des "Wertes der Natur" (in Höhe der Kosten der Schadensbehebung) Bedeutung erhalten, und - je nach Zurechnung - eine weitere Wertmodifikation vorgenommen werden müssen, die sich auch in den Preisen niederschlagen soll. Ein Teil des Nettoprodukts muß also der Behebung von Umweltschäden zugeführt werden. Bei einer vorhandenen Struktur und gegebenem Umfang von Recycling-Industrien und einer gegebenen industriellen Abbaukapazität von Schadstoffen läßt sich diese Wertmodifikation, der "Umwelt-Reproduktionswert"5, berechnen, aus dem allerdings keine Aussagen über die Verteilung der Lasten getroffen werden können. Dies bleibt den politischen Verteilungsprozessen vorbehalten.

Eine weitere Funktion der Wertmodifikation besteht in den durch sie induzierten Veränderungen auf der Nachfrageseite (umweltschädliche Produkte sind teurer und werden daher seltener gekauft), bei Investitionen (in die Produktion sauberer Technologien) und der Entwicklung von umweltfreundlichen Innovationen. Ganz konkret läßt sich die Einführung von Kohlenstoff-, Energie- oder Ressourcensteuern im Sinne dieser Wertmodifikation interpretieren. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus Berlin im Auftrag von Greenpeace untersuchte 1994 die Effekte der Einführung einer sogenannten Ökosteuer bei gleichzeitiger Rückverteilung der Einnahmen an die Haushalte in Form von Fixbeträgen pro Kopf. Im Ergebnis würde - neben einem sorgsameren Umgang mit der Umwelt - eine nicht besonders große, aber dennoch merkliche Anzahl von zusätzlichen Arbeitsplätzen geschaffen werden, da die Unternehmen Arbeit billiger kaufen könnten. Andererseits muß überlegt werden, ob dadurch noch genügend Anreiz zu Produktivitätssteigerungen und zur Senkung der Stückkosten bleibt, die ja neben der Qualität der Produkte für die internationale Konkurrenzfähigkeit maßgeblich sind.

Radikalere Ansätze kombinieren diese "Ökosteuern" mit einer völligen Entlastung der Lohnnebenkosten und/oder der direkten Steuern (auf Löhne und Einkommen) und einem arbeits- und leistungsunabhängigen Basiseinkommen oder Grundgehalt (siehe Punkt 1).

4. Äußere und innere Arbeitszeitverkürzung

Ein arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Dauerbrenner ist die Arbeitszeitverkürzung. Ex post und mittelfristig erweist sich die Verkürzung der Wochenarbeitszeit als arbeitsplatzsichernde Maßnahme. Ohne die faktische Arbeitszeitverkürzung von 6 Stunden pro Woche (von 42.7 Stunden 1964 auf 36.7 Stunden 1991) wäre die Zahl der Arbeitsplätze in Österreich um ein Siebentel niedriger als heute. Arbeitszeitverkürzung ist eine mögliche Antwort auf den (Stück-)Wertverfall von Waren, die durch neue Technologien und Innovationen hergestellt werden. Man könnte daher meinen, daß weitere Arbeitszeitverkürzungen einen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit darstellen würden. Die klassische Form der Verkürzung der Wochenarbeitszeit wurde aber von den arbeitenden Menschen mit geringer Begeisterung aufgenommen (vor allem auch wegen der oft damit verbundenen Lohnkürzungen). Arbeitszeitverkürzung pur besitzt einen schwerwiegenden Nachteil: Wird sie nicht bei konstantem Lohn eingeführt, ist eine gesamtwirtschaftliche Wachstumsverlangsamung mangels Nachfrage nach Konsumgütern wahrscheinlich.

Alternativen dazu sind denkbar, die auf eine Veränderung der Verteilung der Arbeitszeit über das Erwerbsleben abzielen. Längerfristige Bildungsfreistellungen für Monate oder Jahre zum Erwerb bestimmter Qualifikationen, gleitende Übergänge in den Ruhestand sind weitere Konzepte, die diskutiert werden. Eine andere Variante besteht in der Durchlöcherung der traditionell üblichen strikten Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit, die heute schon als irreführend anzusehen ist: Die Freizeit ist bei den gegenwärtigen hohen qualifikatorischen Anforderungen (man denke an EDV-Arbeitsplätze) oft mit dem Erlernen der Benützung neuer Geräte, neuer Computerprogramme oder -sprachen, oder einfach mit dem Einarbeiten in neue Tätigkeitsfelder gefüllt. Diese Tätigkeiten sind eigentlich als Arbeit zu werten, die nur unzureichend oder gar nicht vom Unternehmen remuneriert werden. Ich möchte daher an einen interessanten Versuch zur "inneren Arbeitszeitverkürzung" erinnern, der von den italienischen Gewerkschaften durchgeführt wurde. Die Arbeitszeit der Lohnabhängigen wird dabei zu einem bestimmten Teil nicht vom Unternehmen, sondern von den Werktätigen selbst genützt. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht von Pausenregelungen vor Computerbildschirmen bis zum bezahlten Bildungsurlaub und der bezahlten Zeit für (betriebs-) politische Tätigkeit im Interesse der Arbeiter und Angestellten im weitesten Sinn. Die italienischen Gewerkschaften haben eine Form der inneren Arbeitszeitverkürzung unter dem Titel "Recht auf 50 Stunden" sogar gesetzlich verankern können. Die Arbeitenden müssen, wenn sie dieses Recht in Anspruch nehmen und 50 Stunden pro Jahr für eigene Zwecke (z. B. Fortbildung) verwenden wollen, einen gleich großen Zeitraum aus ihrer Freizeit für diese Tätigkeit zur Verfügung stellen. Das Recht ist interessanterweise nicht nur individuell zu nützen, sondern kann innerhalb des Betriebs an einzelne Kollegen oder Kolleginnen abgetreten und delegiert werden, die dann sogar ein Universitätsstudium (z. B. Arbeitermedizin) absolvieren können.

5. Neue Formen der Selbständigkeit

Meine Überlegungen gehen aber auch noch in andere Richtungen. Sie zielen auf die Definition des Begriffs Arbeit selbst ab. Darunter wird heute vor allem Lohnarbeit durch die "Arbeitnehmer" verstanden, die von den sogenannten "Arbeitgebern" zur Verfügung gestellt wird. Eine qualitativ andere Politik wäre nicht auf die quantitative Veränderung der Zahl der Arbeitsplätze gerichtet, sondern auf die Aufweichung des Lohnarbeitsverhältnisses selbst. Einige Erscheinungen des Alltags lassen sich so interpretieren: "Franchising" bietet die Möglichkeit der (beschränkten) "Selbständigkeit" für Einzelpersonen, "Intrapreneuring" erlaubt im Prinzip die Selbständigkeit einer Gruppe von Menschen innerhalb eines Unternehmens. Innerhalb der Gruppe könnten bedürfnisorientierte Formen der Arbeits- und Zeitaufteilung praktiziert werden, soziale Umverteilung auf Konsensbasis stattfinden und Modelle innerbetrieblicher Demokratie eingeübt werden. Arbeitsstiftungen und andere eher genossenschaftliche Formen können in bestimmten Wirtschaftszweigen eine Wiedergeburt erleben. Der ganze Komplex der "Telearbeit" wäre auf Möglichkeiten zur Selbständigkeit zu untersuchen. Es ließe sich durchaus eine betriebliche Struktur denken, die ausschließlich über elektronische Vernetzung existiert. Die größte Schwierigkeit ist wahrscheinlich weniger die entsprechende Neuformulierung eines entsprechenden gesetzlichen Rahmens als vielmehr die soziale Absicherung dieses so selbständig gewordenen Personenkreises. Außerdem sind noch viele psychologische Effekte elektronisch vernetzter Arbeit ungeklärt.

Schlußbemerkung

Die hier vorgeschlagenen Ergänzungen der Werttheorie und die damit verbundenen Wertmodifikationen sind nicht als der Weisheit letzter Schluß anzusehen. Sie sollen bloß Hinweise darauf geben, daß und wie die Wirtschaftswissenschaften erneut gesellschaftliche Verantwortung übernehmen könnten, wie sie sich den zeitgenössischen Problemlagen entsprechend anpassen ließen, und nicht zu Glasperlenspielen zu verkommen.


Peter Fleissner
Departement for Design and Assessment of Technology/Social Cybernetic
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