Peter Fleissner

Von der Stammesgemeinschaft zur Globalgesellschaft - und zurück?

Vorbemerkung zur Lage

In den Sozialwissenschaften und in den Massenmedien scheint weitgehende Übereinstimmung darüber zu bestehen, daß wir uns in einer Periode rasanten Wandels, ja eines tiefgreifenden Umbruchs befinden. Politisch-ökonomische Veränderungen wie der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers gestalten die internationalen Beziehungen um, Integrationsprozesse und Regionalisierungtendenzen ereignen sich zur gleichen Zeit. In Europa sind wir Zeugen einer historisch einmaligen friedlichen Vereinigung von 15 unabhängigen Staaten in der Europäischen Union und ihrer kommenden Erweiterung nach Osten (plus Zypern). Parallel dazu sehen wir zentrifugale Bestrebungen nach mehr regionaler Unabhängigkeit (Nordirland, Basken, Katalanen, Norditalien) und militärische Auseinandersetzungen in dne ehemaligen sozialistischen Staaten.

Die kapitalistische Konkurrenz zwischen den Unternehmen der Triade (aus NAFTA, den entwickelten Wirtschaftsräumen des fernen Ostens und der EU) hat die Ost-West-Systemkonkurrenz abgelöst. Internationalisierung der Produktion und Globalisierung der Märkte werden zu vielbenützten Schlagworten der Zeit. Es wird deutlich, daß heute weniger die militärische Stärke für eine erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung verantwortlich ist, als vielmehr der Stand der Technik. Die Beherrschung von Innovationsprozessen und die Nutzung der jeweils neuesten Technologien werden als zentrale strategische Parameter der Unternehmen angesehen, im nationalen und internationalen Konkurrenzkampf ihre Position auszubauen oder zumindest zu behaupten.

Zur Unterstützung „ihrer" Unternehmen mobilisieren die staatlichen Institutionen breite Teile der Bevölkerung. Sie benützen dazu Leitbilder, die den Charakter moderner Mythen tragen. Wie schon früher in der Geschichte (so die Französische Revolution mit dem optischen Telegraphen, die russische Revolution mit der Elektrifizierung, der Nationalsozialismus mit den Autobahnen) werden auch heute technische Möglichkeiten mit politisch-ökonomischen Verheißungen verknüpft. Die „Informationsgesellschaft" soll Vorteile für alle Gruppen der Gesellschaft bringen, Arbeitsplätze sollen geschaffen, Klein- und Mittelbetrieben neue Chancen eingeräumt, Behinderten die Integration in die Gesellschaft ermöglicht, die Produktion nachhaltig gestaltet werden. „Informationsgesellschaft" wird als Perspektive nicht nur für die USA gesehen, die nach einer militärischen und einer wissenschaftlichen Phase nun eher am Aufbau einer kommerziell verwertbaren nationalen informationellen Infrastruktur (NII) und den dazugehörigen Regulierungsmaßnahmen orientiert ist. Die reichsten Länder der Erde (G-7) griffen auf Vorschlag der USA diese Metapher ebenfalls auf, um global koordinierte Investitionsprojekte voranzutreiben. Die Europäische Kommission versucht sich an einer Variante von „Informationsgesellschaft", die sozial und nachhaltig ist, vor allem aber neue Arbeitsplätze bringen soll.

Um besser zu verstehen, was den Umbruch eigentlich ausmacht, möchte ich in Stichworten auf die zentralen Prozesse eingehen, die meines Erachtens für den Wandel verantwortlich sind, und die aktuellen technischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderungen unter die Lupe nehmen. Die Darstellung ist notgedrungen verkürzt und muß daher viele, oft auch wichtige Problemfelder unberücksichtigt lassen (so etwa die Frage der Erwerbslosigkeit, oder die neue und zentrale Qualität elektronischer Vernetzung, die in der Erzeugung und Zugänglichmachung virtueller Räume als menschliche Interaktionsorte besteht).

Beginnen wir bei der Technik. Wie zuvor schaffen oder erweitern die neuen Technologien Freiheitsräume für das menschliche Handeln, sowohl für die Einzelperson als auch für die gesellschaftlichen Institutionen. In einer ersten Reaktion erzeugen diese erweiterten Freiheitsräume Angst, Abscheu und Abwehr. Die dunkle Seite der Technologie kann zur Wirklichkeit werden, wenn sie nicht in einem nächsten Schritt gesellschaftlich gezähmt und reguliert wird. Dann dient Technik nicht mehr nur den ökonomischen oder politischen Partikulärinteressen und kann auch Vorteile für die Überlebensfähigkeit der jeweiligen Gesellschaft mit sich bringen.

 

Maschinisierung des Geistes und Vernetzung der Gehirne

Das Charakteristikum der neuen Technologien liegt in der stürmischen Entwicklung in jenen Feldern, die den physiologischen Parametern der Menschen immer näher kommen und damit stärker als zuvor die Identität der Person in Frage stellen können. Besaß traditionelle Technologie, etwa ein Automotor, eine Elektroturbine, ein neuer Kunststoff, vorwiegend äußere Wirkungen auf den Menschen (die sich durchaus, aber indirekt, in Wirkungen auf die Physis und die Psyche niederschlagen können), sind Informations-, Gen- und Biotechnologien in der Lage, die Geistigkeit und Leiblichkeit der Menschen unmittelbar in Frage zu stellen. Menschliches Denken kann durch die „künstliche Intelligenz" teilweise ersetzt oder verstärkt, der menschliche Körper (bald) durch genetische Manipulation unwiderruflich und vererbbar verändert werden. Was sind die zentralen Potentiale dieser Veränderung in der Art des technischen Wandels?

Für die Arbeitswelt zeichnen sich mit jedem neuen Technologieschub Veränderungen ab, die sich in einem neuen Anforderungsprofil an die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen niederschlagen. Letztlich stellen sie das formale und berufliche Bildungssystem in Frage und machen heute die Aneignung von spezifischen „skills" (etwa Programmbedienung) auch in der Freizeit erforderlich. Hatte die Industrielle Revolution mittels der sogenannten „Arbeitsmaschine" die menschliche oder tierische Arbeitskraft als Energiespender und die menschliche Hand als Führungsinstrument des Werkzeugs überflüssig gemacht (und damit die Mechanisierung der Produktion ermöglicht), erlaubt die heutige „Informationsverarbeitende Maschinerie" weitere Arbeits(teil)funktionen durch Maschinen zu ersetzen: Die Tätigkeit der Sinnesorgane (Hören, Sehen, Tasten, Riechen) kann durch technische Einrichtungen substituiert (Mikrophon, Videokamera, mechanische und elektrochemische Effektoren), das (mathematisch fundierte) logische Schließen elektronisch nachgeahmt werden (Mikrochip, Personal Computer). Aktoren setzen die maschinellen Entscheidungen in mechanische, elektrische oder chemische Äquivalente um. Die Kopplung der „Arbeitsmaschine" mit der „Informationsverarbeitenden Maschinerie" gestattete den Siegeszug der Automatisierung der Produktion mit weiteren Steigerungen der Arbeitsproduktivität (oft um den Preis erhöhter Arbeitslosigkeit).

Die „Informationsverarbeitende Maschinerie" in der Gestalt des PC oder als Laptop fand verstärkt Eingang in die Büros und in die Wohnungen der Angestellten. Einen wichtigen Zusatzeffekt erzeugte die (opto-) elektronische Vernetzung über das Internet (traditionell angesteuert über das stationäre, und zunehmend über das mobile Telefonnetz). Nicht nur konnte der Informationsaustausch mittels des bilateralen Austausches von Texten so weit ausgedehnt werden (in Ergänzung zum verbalen Austausch via Telefon) wie das Internet reicht, über die Einrichtung des World Wide Web entsteht darüber hinaus ein riesiges und weiter wachsendes textuelles (aber zunehmend auch ein optisches und akustisches) Angebot (in Ergänzung zum verbalen Angebot über den Hörfunk und zum Angebot von bewegten Bildern und Tönen über das Fernsehen), das vorwiegend gratis und interaktiv genutzt werden kann. Die Texte lassen sich einfach in die eigene Arbeitsumgebung integrieren und weiterbearbeiten (zum Unterschied vom FAX). Die Multimediavariante der Internetnutzung ist im Entstehen. Austausch von Musikstücken, Videoübertragung, Fernsteuerung von Haustechnik, Internet-Hörfunk und Echtzeit-Fernsehen, Internet-(Bild-) Telephonie markieren neuere Nutzungsmöglichkeiten und werden von den meist jugendlichen Technikfreaks begeistert aufgenommen.

 

Senkung der Transaktionskosten

Für die Wirtschaftstätigkeit ist Technologie in quantitativer und qualitativer Hinsicht von Bedeutung: Unter kapitalistischen Konkurrenzbedingungen macht die neue Technologie nur dann Sinn, wenn das Überleben der Unternehmung erleichtert wird, indem die Ertragslage der Unternehmung mittelfristig verbessert werden kann, neue Märkte erschlossen werden, Marktanteile ausgebaut oder zumindest gehalten werden können. Produktinnovationen erlauben es, neue Märkte zu kreieren, Prozeßinnovationen gestatten eine Senkung der Herstellungskosten. Soweit - sogut in der traditionellen Betriebswirtschaftslehre. Heute wissen wir, daß die sogenannten Transaktionskosten von immer größerer Bedeutung werden: Dazu zählen wir die Kosten, eine Information zu erhalten, etwa beim Preisvergleich, aber auch Kommunikationskosten und Organisationskosten. Alle diese Kosten lassen sich durch die Informations- und Kommunikationstechnologien radikal senken: Das Kostenverhältnis zwischen einem längeren FAX ins Ausland und einer gleichlangen e-mail liegt dann schon bei 100 zu 1. Kommunikationsprozesse, die durch Internationalisierung der Produktion und Globalisierung der Märkte vermehrt anfallen, können relativ leicht bewältigt werden (was die technische Seite betrifft; Sprachkenntnisse etwa bleiben immer noch eine wichtige und einschränkende - weil teure - Voraussetzung). Der beginnende elektronische Handel, das Telebanking, die elektronische Buchbestellung, sind konkrete Beispiele für fallende Transaktionskosten. Die elektronischen Anwendungen würden nicht realisiert werden, wären sie kostensteigernd.

Nun soll die qualitative Seite betrachtet werden: Die klassische Prozeßinnovation, wie sie für den Massenkonsum bestimmend war (etwa das Fernsehgerät, das Auto, der Kühlschrank, das Telefon, der Großrechner usw.) wird durch die neuen elektronischen Technologien in vermehrt kundenspezifische, individuell gestaltbare Bahnen gelenkt. Dafür ist die Software verantwortlich, die aus einem elektronischen Rechner eine universelle Maschine macht, die je nach Programm die entsprechenden Aufgaben erfüllen kann (mit der Einschränkung, daß sie als Algorithmen formulierbar sind). Die Eingriffsmöglichkeiten in die Funktionsweise werden im Prinzip auch für die Benutzer/Konsumenten zugänglich, allerdings kann der Zugang nur über ein Minimum an Programmierkenntnissen realisiert werden (was schon bei der Bedienung von Videorecordern an generationsbedingte Grenzen stößt). Durch die Vernetzung der PCs können Leserinnen zu Schriftstellerinnen werden, die Möglichkeit des „Prosumierens" (Produzieren-Konsumieren) bildet sich heraus.

 

Phasen technischer Entwicklung

Damit ist aber die Bandbreite der qualitativen Neuerungen noch lange nicht erschöpft. Wie in Anlehnung an den Philosophen Ernst Cassirer auch für Technikanwendungen formuliert werden kann (er hat sich generell mit der „Philosophie der symbolischer Formen" befaßt - eines seiner wichtigsten Werke), lassen sich mehrere Stufen der Anwendung einer neuen Technik unterscheiden. Zunächst bleibt sie der Tradition verhaftet und ahmt traditionelle Technik nach, allerdings mit neuen Mitteln (Mimesis), in einer späteren Phase löst sie sich aus der bloßen Imitation, eine Art Verdopplung tritt ein, die in Distanz zum vormaligen Prozeß eine - heute würden wir sagen, virtuelle - zweite Ebene schafft, auf der, sozusagen reflektierend, das Problem angegangen werden kann. Letztlich, in der Phase der sogenannten „Darstellung", findet die neue Technologie komplett neuartige Lösungen und Verwendungszusammenhänge. Als Beispiel mag die Ablösung des Pferdewagens durch das Auto dienen. Zunächst erhält der traditionelle Wagen bloß einen Verbrennungsmotor als Antrieb, dann werden verschiedene Bedienungselemente in neuer Form und nach alternativen Prinzipien simuliert (Lenkrad statt Zügel, Scheibenbremse statt Backenbremse), schließlich entsteht eine komplette neue Bauform, ein ganzes System von zusammenpassenden Elementen, das kaum mehr an den Pferdewagen erinnert.

Ich muß ergänzen, daß die möglichen Verwendungszusammenhänge wesentlich vom Umfeld abhängen, in das sie integriert sind (im Autobeispiel: beinahe wäre das Auto durch die technisch günstigere Dampfmaschine betrieben worden, hätte in den USA nicht die Maul- und Klauenseuche zu abgesperrten Brunnen geführt, die ein Nachtanken von Wasser für Dampfautos unmöglich machten. Der Benzinmotor war dann der brauchbarere Ausweg und legte die zukünftige Entwicklung fest. Wir Heutigen bauen diese Schiene weiter aus, auch wenn die gesellschaftlichen Kosten die Vorteile langsam in Frage zu stellen beginnen - es handelt sich um ein von Brian Arthur vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse so genanntes „lock-in Phänomen" (siehe seinen Artikel "Competing Technologies, Increasing Returns, and Lock-in by Historical Events" im Economic Journal, März 1989, No. 394). Für Informations- und Kommunikationstechnologien öffnen sich andere Anwendungsfelder, die von der Mimesis-Phase „Taschenrechner", über die Verdopplungsphase „Simulationen aller Art" zu neuen Möglichkeiten der Interaktion, Organisation und Management in Menschengruppen führen. Weiter unten komme ich auf diese Überlegungen zurück.

 

Die neuen elektronischen Medien und die menschliche Interaktion

Welche qualitativen Veränderungen im Verhältnis der Menschen zueinander können von diesen neuen Technologien ausgehen? Meiner Ansicht nach stehen sie in engstem Zusammenhang mit der vom Soziologen Ferdinand Tönnies (1855 - 1936) herausgearbeiteten Unterscheidung zwischen „Gemeinschaft" und „Gesellschaft". Max Weber (1864 - 1920) hat diese Unterscheidung übernommen und vertieft (siehe seine „Soziologischen Grundbegriffe", UTB-Taschenbücher 541, Tübingen 1984). Nach ihm liegt „Vergemeinschaftung" einer sozialen Beziehung oder eines gesellschaftlichen Verbandes dann vor, wenn sie auf „affektueller oder emotionaler oder aber traditioneller Grundlage" beruht, während „Vergesellschaftung" auf „rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessensausgleich oder auf ebenso motivierter Interessensverbindung" fußt. Charakteristische Beispiele für Vergemeinschaftung sind nach Weber „am bequemsten die Familiengemeinschaft" oder eine „kameradschaftlich zusammenhaltende Truppe", für Vergesellschaftung der Markt oder der „reine Zweckverein".

Korrekterweise meint Weber, daß die meisten Verbände als Mischformen auftreten, da jedes Zweckverhältnis früher oder später auch zu emotionalen Bindungen neigt. Meiner Ansicht nach ist überdies heute nicht mehr so leicht zwischen der wertfreien Ratio und emotionaler Motivation zu unterscheiden. Zwecke sind eben nicht von Emotionen unabhängig setzbar, wenn sich auch Weber mit seinem Wertfreiheitspostulat für eine solche Perspektive entschieden hat. Dennoch scheint die begriffliche Differenz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft einen wahren und nützlichen Kern zu bergen, der hier herausgearbeitet werden soll. Er wird uns unversehens zu Fragen elektronischer Demokratie bringen.

In Ko-evolution zu Transport- und Kommunikationstechnologien haben sich die Umgangsformen der Menschen zueinander entwickelt, wobei sich die Parameter „Zeit" und „Raum" qualitativ und quantitativ verändert haben. Hier sind damit natürlich nicht die physikalisch definierten Begriffe oder die Kantschen Kategorien gemeint, sondern die Bedeutung, die ihnen in der alltäglichen Praxis zukommt. Hinter der häufig gehörten Aussage: „Die Welt ist kleiner geworden!" verbirgt sich eine Veränderung der individuellen psychischen Topologie und Chronologie. Damit geht Hand in Hand die Möglichkeit zur Einbeziehung weiterer Personen in das „Wir". Waren es in frühen Gemeinschaften, in einem Stamm, nur wenige Personen, auf die das „Wir" zutraf, hat sich die Quantität des „Wir" heute wesentlich ausgedehnt, in Abhängigkeit von den gemeinsamen bzw. gegensätzlichen Interessen. Man kann leicht zeigen, daß dabei Technologie bloß eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung für die Konstitution des „Wir" darstellt.

Aber greifen wir nicht vor. Die „Vergemeinschaftungen" lassen sich meines Erachtens zweckdienlicher definieren, wenn man sie auf der Unmittelbarkeit des Kontakts zwischen Menschen beruhend sieht, während aus meiner Perspektive „Vergesellschaftungen" auf vermittelten Formen der Kommunikation aufbauen. Diese Unterscheidung erlaubt es, die der Gemeinschaft oft zugeschriebene „Wärme" in den richtigen Zusammenhang zu rücken, und deutlich zu machen, warum Gesellschaft als eher „kalter" Ort erscheint. Die direkten körperlichen und face to face Kontakte, die in der Familie überwiegen, treten in einem zeitgenössischen Staatswesen zurück und werden zweitrangig. Damit verändern sich auch die Möglichkeiten von Sanktionen bei Verstößen gegen das Gemeinwesen. Laufen sie in der Gemeinschaft auf der Basis persönlichen physischen, psychischen oder sozialen Drucks, findet die Gesellschaft neue Formen des Zwangs, die an der legitimierten Einschränkung des Handlungsraumes des Einzelnen ansetzen (Geldstrafen, Freiheitsstrafen usw.).

Und hier kommen wir direkt zur Frage nach der Rolle elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologien für die Konstituierung von Öffentlichkeit und Demokratisierung. Öffentlichkeit reicht immer nur so weit wie unsere Medien (sie enthalten in ihrem Namen den oben angesprochenen Gedanken der Vermitteltheit von Kommunikation in Gesellschaften). Demokratie reicht nur so weit wie das Volk selbst, als eine Menge von Personen, die durch ein oder mehrere gemeinsame charakteristische Merkmale ausgezeichnet sind, oft durch das längerfristig gemeinsam bewohnte Territorium mit gemeinsame politisch-administrativen Institutionen oder durch eine oder mehrere Sprachen - aber hier beginnt bereits der Meinungsstreit über Ein- und Ausschluß, über die Definition des „Wir". Die Merkmalswahl selbst ist ein politischer Akt und läßt sich nicht vom Schreibtisch aus entscheiden.

 

Die Technik - kein neutrales Instrument

Wie die geneigten Leser schon zu ahnen beginnen, machen neue Technologien, wie auch immer sie aussehen mögen, nur einen Teil der Wirklichkeit aus. Technik besitzt eben Instrumentalcharakter. Sie dient immer einem bestimmten Ziel. Auch wenn sich hinter dem Rücken andere Effekte als erwartet herausstellen, wird diese Aussage nicht falsch. Und auch dann nicht, wenn die Technologie selbst eigenständig (im Rahmen der von den Konstrukteuren vorgegebenen Grenzen) verschiedene Wege zur Erreichung des Zieles wählen kann (wie es im Bereich der Intelligenten Agenten im Internet durchaus möglich ist). Die Ziele selbst sind immer von Menschen gesetzt, sie sind der Technik äußerlich, und verweisen damit auf Bereiche, die nicht technisch bestimmt werden können (obwohl die Findung der Ziele mit technischen Mitteln erleichtert werden kann, man denke etwa an Investitionsrechnung oder Simulationsmodelle in der Unternehmensplanung).

Aber die Umkehrung gilt ebenfalls: Technik ist nicht nur neutrales Instrument zur Zielerreichung, sondern weist als solche, spezifische technische Form eine Affinität zu bestimmten menschlichen Zielen auf. So ist etwa das Fernsehen nur unter großen Schwierigkeiten als Bildungsinstrument im Humboldtschen Sinne zu verwenden, und fungiert als Unterhaltungsmedium, das Telefon hat sich nach ersten Bemühungen in Ungarn als ungeeignet für die Übertragung von philharmonischen Konzerten erwiesen, jedoch als Medium persönlicher, privater und geschäftlicher Kommunikation zur größten Maschine der Welt aufgestiegen, der Rundfunk hat seinen Beginn als interaktives Medium weitgehend vergessen (Nachklänge finden sich noch im CB - Citizen Band - Funk und bei Amateurfunkern) und beschränkt sich auf das „broadcasting".

Beide Aspekte, die Einschränkung von Technologie durch die kulturellen, politischen, sozialen und ökonomischen Nebenbedingungen einerseits, und die Affinität einer speziellen Technologie zu bestimmten menschlichen Intentionen andererseits, müssen bedacht werden, bevor eine verläßliche Aussage über zukünftige Entwicklungen gemacht werden kann. Die oben genannten Nebenbedingungen bilden dabei eine Art Filter, die eine Reduktion des Möglichkeitsfeldes bewirken, wobei allerdings und gerade bei den Informations- und Kommunikationstechnologien große Spielräume erhalten bleiben, die im Rahmen des politischen Kräftemessens relativ frei bestimmt und genützt werden können.

 

Perspektiven politischer Kommunikation

Übertragen wir das Cassirersche Modell auf die neuen Medien, sehen wir sogleich eine erste Ebene von Anwendungen: die technische Verbesserung der politischen Kommunikation, ohne irgendeine Änderung der Rahmenbedingungen: Hierzu zählen die Versuche, kommunale Verwaltungen den Bürgern via Internet zugänglich zu machen (wie z.B. in Amsterdam oder Bologna), im besten Fall die Bürger in die Entscheidungsfindung (nicht in die Entscheidung selbst - dazu wäre eine Verfassungsänderung nötig) einzubeziehen, Verwaltungsdienstleistungen über das Netz anzubieten, etwa das Grundbuch via Internet abzufragen, die Steuererklärung virtuell zu erledigen usw.

Politische Vereine könnten durch elektronische Vernetzung ihre Tätigkeit kostengünstiger, leichter und schneller als zuvor abwickeln, und so rascher zum erwünschten Ziel kommen. Da sie weltweit operieren können, bestehen konkrete Möglichkeiten, eine Weltöffentlichkeit herzustellen. Beispiele dafür finden sich in Rußland, China und Mexiko. Allerdings ist keine Gewähr gegeben, ob die jeweiligen Ziele langfristig für die Gesellschaft zum Vorteil gereichen oder nicht. Rechtsextreme Gruppen bedienen sich genauso der elektronischen Möglichkeiten wie manche Großparteien.

Aber auch negative Varianten zeichnen sich ab: Die in den USA beliebte direkte Beeinflussung von Krongreßabgeordneten erfolgte schon bisher über Faxe, die von professionell arbeitenden Dienstleistungsunternehmen gegen Bezahlung und im Auftrag der Lobbyisten verschickt werden. Der nächste Schritt besteht im massenhaften Versand von e-mails, die meinungsbeeinflussend wirken sollen, durch Agenturen. Allerdings wird gerade die politische Einflußmöglichkeit durch das organisierte Vorgehen entwertet, das eine starke finanzielle Basis benötigt und damit den politischen Willen des „kleinen Mannes" verzerrt.

Cassirers zweite Phase, die Reflexion, läßt sich ebenfalls schon in Anfängen aufweisen: Freiwillige stellten für den Wahlkampf in einem US-Bundesstaat einen Vergleich aller Programme der wahlwerbenden Gruppen ins Netz und erlauben dadurch eine Wahlentscheidung auf rationaler Grundlage. Sie verkörpern nicht mehr partikuläre Interessen, sondern ein Interesse auf höherer Stufe, das den Idealen demokratischer Prozesse verpflichtet ist.

 

Geänderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Der dritte Entwicklungsschritt nach Cassirer läßt sich meines Erachtens nicht ausschließlich in der virtuellen Realität durchführen. Er würde eine Veränderung der politischen Rahmenbedingungen notwendig machen. Dazu gibt es verschiedene Vorschläge. Einer davon wäre die Verabschiedung einer einklagbaren „Charta Virtualis", die für den heutigen Entwicklungsstand die Bürgerrechte neu (und dann auch Menschenrechte) festschreibt. Den geistigen Hintergrund dafür bildet immer noch die Aufklärung und die bürgerliche Revolution. Eine solche Charta kann die Wirkungen der neuen Technologie in eine für die Mehrheit der Menschen vorteilhafte Richtung lenken und gerade dadurch die Akzeptanz für neue Technologien erhöhen. Es sollen nur einige Kapitel skizziert werden, aus denen eine solche Charta bestehen könnte: Das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung (das über den eher passiv angesetzten Datenschutz weit hinausgeht), damit natürlich auch das Recht auf die (unbrechbare) Verschlüsselung und Anonymisierung der privaten Kommunikation; das Recht auf angemessene lebenslange Bildung; das Recht auf die Benützung der betrieblichen Kommunikationsanlagen für die Arbeitnehmervertretung; Recht auf soziale Sicherheit für Selbständige, Lohnabhängige, Teilzeitbeschäftigte und Arbeitlose; beziehungsweise das Recht auf ein menschenwürdiges Minimaleinkommen (als Ersatz für das Recht auf einen lebenslangen Arbeitsplatz).

Eine radikalere Variante bestünde in einer veränderten Form von Demokratie, die sich via elektronischer Vernetzung realisieren ließe: basisnahe Mitentscheidungsrechte mit Minderheitenschutz und Subsidiaritätsprinzip; Ergänzung der heutigen unflexiblen und auch teuren Großorganisationen (Parteien, Gewerkschaften und sonstige Interessensvertretungen, Sozialversicherungen) durch elektronisch unterstützte (empowered) Gruppen, die traditionelle Funktionen des Wohlfahrtsstaates übernehmen, als gesetzlich abgesicherte Konkurrenten (in einer späteren Phase eventuell als ihr Ersatz). Zur Illustration dazu einige Beispiele in Stichworten, die von den Leserinnen und Lesern beliebig verbessert und erweitert werden können:

Eigentätigkeit in selbstorganisierter Nachbarschaftshilfe für Ältere und hilfsbedürftige Personen könnte das Sozialversicherungssystem entlasten (und damit die Bezahlung des Sozialversicherungsbeitrags erübrigen) und gleichzeitig die tatsächliche soziale Lage eines Landes den Wählern deutlich machen.

Die aus den protestantischen Bibelrunden in Skandinavien entstandenen Studienzirkel könnten durch Informationstechnologien gestärkt eine Alternative (aber auch Ergänzung, und eventuell Konkurrenz) zum traditionellen Schulwesen bieten und lebenslanges Lernen erleichtern.

Netzwerke aus virtuellen „Intrapreneuren" könnten die traditionellen Großunternehmen ergänzen bzw. ersetzen, darüber hinaus ein hohes Ausmaß an tatsächlichen Mitentscheidungsrechten und eine verstärkte Motivation für eine verbesserte Produkt- und Dienstleistungsqualität bieten.

Vor allem die letzten beiden Beispiele verweisen auf Gruppen von Menschen, die nicht mehr durch gemeinsame Anwesenheit am selben Ort und zur gleichen Zeit in face to face Kontakt stehen müssen. Physisch können sie über die ganze Welt verteilt sein und zu unterschiedlichen Zeiten tätig werden. Die Menschen bleiben allerdings - wie in der traditionellen Stammeskultur - durch ein gemeinsames Interesse jenseits der Virtualität einander verbunden.

Aus dem bisher Geschriebenen sollte klar geworden sein, daß die neuen Technologien per se nicht ins Paradies führen, sondern ein gerütteltes Maß an Infrastruktur und Regulierung als Voraussetzung für ihre gesellschaftlich vorteilhafte Anwendung benötigen. Diese Voraussetzungen lassen sich nicht alleine in der virtuellen Realität herstellen, sondern bedürfen neuer gesellschaftlicher Institutionen, die den politischen Meinungsbildungsprozeß moderieren. Wenn dazu die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien einen (technischen) Beitrag leisten können, umso besser.

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Fußnote: DI Dr. techn. Peter Fleissner, ordentlicher Professor an der Technischen Universität Wien, ist derzeit als Abteilungsleiter am Institut für technologische Zukunftsforschung der Europäischen Kommission in Sevilla tätig. Der hier vorgelegte Text stellt seine Privatmeinung dar, die nicht notwendigerweise mit der Auffassung der Europäischen Kommission übereinstimmen muß.