Virtuelle Organisationen
Date: 16-05-1995
URL: http://igw.tuwien.ac.at/igw/Personen/
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Virtuelle Organisationen -

Eine reale Perspektive?

Durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union haben sich die Rahmenbedingungen für die privaten Unternehmen, aber auch für sonstige private und öffentliche Organisationen verändert. Österreich verliert allmählich den Charakter einer provinziell-verschlafenen "Insel der Seligen". Nicht nur die Unternehmen, auch die Bürokratie müssen sich internationalen Beurteilungsmaßstäben stellen.

Ein veränderter Rahmen

Die überkommenen Praktiken des Managements stehen vor folgenden Herausforderungen:

* Unter dem härter gewordenen internationalen Konkurrenzdruck müssen Entscheidungen rascher getroffen werden, ohne daß sie an Qualität verlieren dürfen. Die durchschnittliche Produktlebensdauer verkürzte sich auf etwa 18 Monate (Der Zukunftsforscher Alvin Toffler, Berater von Newt Gingrich, bemüht Charles Darwin, indem er formulierte: "Today, it is survival of the fastest, not the fittest").

* Wegen des geringeren Kapitalaufwands für die nötige Hardware sinken die Markteintrittskosten, insbesondere im Bereich von Informations- und Kommunikationsdiensten. Dies erleichtert einem Unternehmen den Eintritt, aber ebenso auch seiner Konkurrenz.

* Die Unternehmen in Österreich konkurrieren im Zuge der Internationalisierung, ja teilweise Globalisierung ihres Umfelds nicht mehr bloß um inländische Marktanteile, sondern müssen sich zunehmend auch um ausländische Märkte kümmern. Dabei fehlt oft die entsprechende Vertriebsorganisation, was neue Kooperationen notwendig macht.

Technische Veränderungen

Zum politisch-ökonomischen Wandel kommen technische Veränderungen, die für non-profit-Organisationen und für private Unternehmen neue Möglichkeitsfelder eröffnen und erhöhte Anforderungen stellen:

* Die durch flexible Fertigung und Spezialisierung via Programmierbarkeit technisch mögliche Anpassung an Kundenwünsche führt zu einer Verringerung der Losgrößen und zu maßgeschneiderten Lösungen. Die Kunden gehen dorthin, wo ihnen die Produkte und Dienste rasch und wunschgemäß angeboten werden.

* Die modernen elektronischen Kommunikationsmedien sind nicht mehr nur den Großen der Branche vorbehalten. Zunehmend werden sie auch für Klein- und Mittelbetriebe und für Ein-Personen-Unternehmen erschwinglich. Die Kosten von Hard- und Software fallen mit jeder neuen PC-Generation, die Leistungsfähigkeit steigt.

* Die bald zur Verfügung stehende Netzkapazität, die in Zukunft neben der Post auch von der Bundesbahn, von den regionalen Elektrizitätsversorgungsunternehmungen und der Verbundgesellschaft, von den Fernseh-Kabelgesellschaften, aber auch von Elektronikkonzernen, Banken und Versicherungen, angeboten werden wird, läßt eine Verbilligung der Leitungskosten erwarten.

Beispiele virtueller Organisationen

Diese Trends bilden ein Muster, das eine Änderung der traditionellen Unternehmenstopologie erwarten läßt. Bisher sind Arbeiter und Angestellte gewohnt, "in die Arbeit zu gehen", wodurch die vorhandene Trennung von Arbeits- und Freizeitort korrekt beschrieben wird. Der Arbeit werden, genauso wie auch der Freizeit, ein oder mehrere physische Orte zugewiesen. Der Ausbau der elektronischen Netze und die Mobilisierung der elektronischen Kommunikation über Funk bzw. Infrarot erlaubt es jedoch, Arbeitsplätze im Großen wie im Kleinen an andere Stellen zu verlagern, vorrangig dorthin, wo sich die Menschen normalerweise aufhalten, also in die eigenen vier Wänden oder in das Auto (in den USA verbringen 45 Millionen Menschen mehr Zeit im Auto als am Arbeitsplatz). Bereits jetzt wird eine beeindruckende Liste von technischen Geräten angeboten, die den Strukturwandel unterstützt, unter anderem Satelliten-, Mobil- und Schnurlos-Telefone, Laptop- oder Palmtop-Computer, Personal Digital Assistants, Pager, mobiles Fax und Einrichtungen für Videokonferenzen.

Die virtuelle Organisation ist keine Utopie mehr. In einzelnen Produktionszweigen, insbesondere in Bereichen, wo Informationsverarbeitung zentral ist, ist sie bereits Wirklichkeit geworden. So gibt es in Wien den Verein SYSIS, der im Bereich der Organisationsberatung mit der Erstellung von mathematischen dynamischen Simulationsmodellen tätig ist. Er besitzt keine zentralen, physisch definierten Büroräume mehr, sondern ein virtuelles Büro, das in einem Bulletin Board System, der "Blackbox", als Ordner (ein System von Dateien) residiert. Auf diese Dateien kann jede der SYSIS-MitarbeiterInnen via Modem zugreifen und elektronische Post senden oder empfangen. Neben den virtuellen Treffen werden in unregelmäßigen Abständen auch körperliche Treffen organisiert, die meist in landschaftlich ansprechender Umgebung (z. B. auf einer Schihütte) stattfinden.

Eine andere interessante Anwendung für eine virtuelle Organisation erfand der amerikanische Bundesstaat Colorado angesichts einer wachsenden Anzahl von obdachlosen Arbeitslosen, die über keine Wohnadresse verfügen. Colorado beschloß die Einrichtung je einer Sprach-Mailbox mit einer persönlichen Telefonnummer für jeden Obdachlosen, die kostenlos angerufen werden kann. Bei Anruf werden ihnen das Stellenangebot bzw. die Termine für ein Interview automatisch mitgeteilt. Der Erfolg gab der Landesregierung recht: Mehr als 75% der Obdachlosen haben schon einen Arbeitsplatz gefunden.

Bell Atlantic, eine der sieben US-Telefongesellschaften, die 1984 durch Aufteilung der Bell Telephone Company entstanden sind, begann 1991 mit einem Feldversuch für das Telecommuting von 100 Managern, der nunmehr auf eine Option für alle 16.000 Manager ausgedehnt wurde. Derzeit wird mit der Gewerkschaft um eine Erweiterung auf alle 50.000 Beschäftigten verhandelt. Nach Aussage des Aufsichtsratsvorsitzenden von Bell Atlantic, Raymond W. Smith, hätte der Feldversuch in allen Fällen eine steigende oder gleichbleibende Arbeitsproduktivität gebracht, obwohl die Bürostunden mit face-to-face-Kontakt reduziert worden wären. Die bisherige Hierarchie wäre flacher geworden, Personen mit hoher Qualifikation könnten sich nun besser einbringen als vorher, wo sie etwa vom Vorgesetzten aus irgendwelchen persönlichen Gründen übersehen wurden.

"Die Umweltbelastung in Washington, D.C., könnte durch die Errichtung von satellitengespeisten Telecommuting-Zentren am Stadtrand für die Arbeitskräfte, die sonst mit dem Auto in die Stadt pendeln müßten, wesentlich verringert werden", zählt Smith einen weiteren Vorteil des Telecommuting auf. Dieser Punkt ist aber nicht unumstritten. Die Gründung von virtuellen Unternehmen in großem Stil könnte - obwohl lokal durchaus entlastend - global zur Übersiedlung aus der Stadt in bisher unberührte Naturreservate und in Anschluß daran zu deren Zerstörung durch Übernutzung führen.

Managementstrategien

Wollen virtuelle Unternehmen längerfristig erfolgreich sein, müssen sie die traditionelle Distanz zwischen Arbeitswelt und Freizeitbereich produktiv überbrücken. Sie geraten in ein Spannungsfeld zwischen der Unternehmenslogik und der informellen Atmosphäre im Wohn- und Freizeitbereich der Angehörigen des Unternehmens. Sie dringen mit ihren besonderen Anforderungen in soziale Räume ein, die bisher von der Arbeitswelt relativ getrennt waren. Dort haben sich Verhaltensmuster zur Reproduktion und Regeneration menschlicher Arbeitskraft als auch selbstgesetzte kulturelle Verhaltensmuster herausgebildet. Gelten im Unternehmen letztlich rationale Prinzipien der Gewinn- bzw. Umsatzmaximierung, die nur vorübergehend durch Einzelpersonen oder bestimmte Abteilungen in der Betriebshierarchie zum Zweck der Befriedigung von Partikulärinteressen außer Kraft gesetzt werden können (wenn z. B. die Gründung einer EDV-Abteilung das bisherige Machtgefüge im Betrieb verändert), herrschen im Freizeitbereich andere, lebensweltliche Anforderungen. Durch die Indienstnahme von Ressourcen in der Freizeitwelt der Betriebsangehörigen werden die beiden Logiken miteinander in Beziehung gesetzt, wobei die spezielle Gestaltung dieser Beziehung nicht eindeutig festgelegt ist. Es lassen sich folgende Idealtypen unterscheiden, denen unterschiedliche Managementstrategien entsprechen:

a) Traditionelle Strategie: Die Betriebslogik wird der Arbeits- und Lebenswelt der Mitarbeiter aufgezwungen. Im Sinne traditioneller Managementpraktiken wird das Regime über die Beschäftigten im Betrieb auf ihre Lebenswelt auszudehnen versucht. Fixe Arbeitsvorgaben und ein rigides Kontrollsystem werden beim Beschäftigten kaum große Begeisterung hervorrufen. Er wird mit Leistungszurückhaltung reagieren.

b) Laissez faire-Strategie: Die Freizeitlogik und die Logik der Privatsphäre dominieren den Betrieb. Die Motivation auf seiten des Beschäftigten wird zwar hoch sein, kann er/sie doch die Zeitgestaltung frei wählen. Etwaige Produktivitätsgewinne werden aber durch erhöhte Schwierigkeiten in der Koordination der Einzelarbeiten wettgemacht.

c) Strategie der Teilautonomie: Das Management der virtuellen Unternehmung berücksichtigt Teilelemente der Freizeitlogik bei der Setzung der Arbeitsaufgaben und verfolgt indirekt die Unternehmensziele. Eventuell können Scheduling-Programme dabei eine gewisse Unterstützung bieten.

d) Selbstorganisations-Strategie: Die Arbeitsorganisation erfolgt interaktiv durch einen permanenten Aushandlungs- und Abstimmungsprozeß von Arbeitsaufgaben, Arbeitsinhalten, Terminen und Remuneration. Das Management übernimmt die Aufgabe eines "Trainers" oder eines "Coach" und erleichtert dem Teleworker-Team die Koordination seiner Aufgaben. Elektronische Hilfsmittel (Workflow-Programme, Time-Scheduling) können sinnvoll angewendet werden.

In vielen virtuellen Organisationen hat sich gezeigt, daß der virtuelle Kontakt den physischen nicht zur Gänze ersetzen kann. Im Gegenteil, die face-to-face-Treffen gewinnen an Bedeutung und werden oft auch bewußter gestaltet, als es im traditionellen Büroalltag der Fall ist.

Offene Fragen

Es ist offensichtlich, daß noch viele arbeits- und sozialrechtliche Probleme einer Lösung harren, vor allem, wenn die virtuelle Organisation Landesgrenzen überschreitet. Wie soll denn Lohn- und Sozialpolitik für indische Mitarbeiter betrieben werden? Sollen Programmierer, die in Ungarn leben und für ein österreichisches Unternehmen arbeiten, den gleichen Lohn erhalten wie ihre österreichischen Kollegen?

Es bleibt noch darauf hinzuweisen, daß die virtuelle betriebliche Organisation nur dann gute Akzeptanz finden wird, wenn Sorge getragen ist, daß für die MitarbeiterInnen reale Vorteile und keine Verschlechterungen gegenüber der traditionellen Situation erwachsen. Dazu gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, die in Form einer Betriebsvereinbarung festgeschrieben werden könnten, etwa eine garantierte hohe Zeitautonomie, kein beckmesserisches Anwesenheitsprinzip, Entlohnung nach Leistung und nicht nach Arbeitszeit, eine Beteiligung des Unternehmens an den Mietkosten, ein guter Standard an sozialer Sicherheit, Einräumung von beschränkten Nutzungsrechten der Kommunikationslinien der virtuellen Unternehmung für Zwecke der Mitarbeiter und der Arbeitnehmervertetung, transparente Organisationsstruktur, weitgehende Mitwirkungsrechte der Mitarbeiter, Verzicht auf kontinuierliche elektronische Arbeitsüberwachung, Einhaltung von Datenschutzgrundsätzen, hohe Datensicherheit, großzügige Weiterbildungsangebote, gute technische Ausstattung der Arbeitsplätze durch das Unternehmen usw.


Peter Fleissner
Departement for Design and Assessment of Technology/Social Cybernetic
Möllwaldplatz 5/187
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